Wie funktioniert Russlands hybride Kriegsführung?
27. November 2024In Litauen stürzt ein Frachtflugzeug des deutschen Paketdienstleisters DHL ab, in der Ostsee werden zwei Unterwasser-Datenkabel beschädigt, in Rumänien erreicht ein pro-russischer Rechtsextremer überraschend die Stichwahl fürs Präsidentenamt. Drei Meldungen aus dieser Woche, die aufhorchen lassen.
Auch wenn bislang nichts bewiesen ist, vermuten mehrere westliche Politiker und Geheimdienste hinter all diesen Vorkommnissen dieselbe treibende Kraft: Russland. Die Gefahren durch die vom Kreml ausgehende sogenannte "hybride Kriegsführung" sind zwar nicht neu; Experten warnen aber, dass sie seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 bedrohlich gestiegen seien.
"Hybride Kriegsführung" - das ist die Ausweitung eines rein militärischen Kampfeinsatzes unter Zuhilfenahme von Spionage, Sabotage, Cyberangriffen, Wahlbeeinflussung, Propaganda- oder Desinformationskampagnen mit dem Ziel, den Feind von innen heraus zu schwächen und zu destabilisieren. Russland, warnen Experten, habe sein Arsenal an Möglichkeiten zur hybriden Kriegsführung in den vergangenen Jahren kontinuierlich ausgebaut. Ein Überblick:
Spionage
Seit Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine haben europäische Staaten rund 500 russische Diplomaten ausgewiesen. Der britische Geheimdienst MI5 stuft mindestens 400 von ihnen als Spione ein. In vielen russischen Botschaften und Generalkonsulaten soll hochmoderne Kommunikations- und Ausspähtechnik verbaut sein.
Zweifelsfrei nachzuweisen ist dies nicht - schließlich gelten die Gebäude als russische Hoheitsgebiete und genießen diplomatischen Schutzstatus. Zudem warnte der niederländische Geheimdienst, Russland statte Spione mit falschen Papieren aus und schleuse sie als Geschäftsleute getarnt in westliche Institutionen ein.
Regelmäßig tauchen Berichte auf, in denen Russland der Spionage bezichtigt wird. Seien es abgehörte Bundeswehr-Gespräche über das Raketenabwehrsystem Taurus , mutmaßliche russische Drohnen über europäischen Luftwaffenstützpunkten und Industriezonen oder angebliche Forschungsschiffe, die in den Meeren Nordeuropas kreuzen und verdächtigt werden, kritische Infrastruktur am Meeresgrund für mögliche Sabotageakte zu kartographieren.
Sabotage
Vergangene Wochen soll ein chinesischer Frachter, der von einem russischen Kapitän gesteuert wurde, mit einem am Meeresgrund mitgeschleppten Anker zwei Unterseekabel beschädigt haben. Der Fall weist Parallelen zu einem ähnlichen Vorfall im Oktober 2023 auf. Vorigen Monat gab es einen Brandanschlag auf ein Lagerhaus in London, in dem Hilfsgüter für die Ukraine gelagert wurden. Im Juli ging im DHL-Logistikzentrum in Leipzig ein Paket in Flammen auf, das eigentlich per Luftfracht hätte verschickt werden sollen. In diesen und zahlreichen weiteren Fällen wird russische Sabotage vermutet. Bewiesen ist bislang jedoch nichts.
Dennoch warnen europäische Nachrichtendienste, dass die Zahl der Sabotageakte und Brandstiftungen in der EU und Großbritannien im vergangenen Jahr drastisch zugenommen habe.
Cyberattacken
Auch im Cyberraum, warnt das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, sei die Gefährdungslage "hoch wie nie". Spionage und Sabotage haben Hochkonjunktur im Netz. "Vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine waren Angreifergruppen, die Russland zugeordnet werden, in Deutschland insbesondere mit Cyberspionage und finanziell motivierten Ransomware-Angriffen aktiv. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich das Spektrum der Bedrohungslage erweitert", so das BSI.
Stark angestiegen sei etwa "die Zahl von DDoS-Angriffen durch pro-russische Hacktivisten": Dabei werden Webseiten oder Server von Institutionen so sehr mit schädlichem Traffic geflutet, bis sie wegen Überlastung nicht mehr betrieben werden können. Aber auch Hackerangriffe mit dem Ziel des Eindringens in geschützte Netzwerke von Firmen oder Institutionen nehmen zu.
Desinformation und Propaganda
Ein weiteres großes Betätigungsfeld hybrider Kriegsführung ist der Versuch, die öffentliche Meinung im Zielland zu beeinflussen. Dafür werden etwa Falschinformationen sowie prorussische oder antiukrainische Narrative verbreitet, sei es über sogenannte Trollfabriken in Sozialen Medien oder über russische Auslandsmedien.
Anfang 2024 deckte das Auswärtige Amt die sogenannte "Doppelgänger-Kampagne" auf: 50.000 gefälschte Nutzerkonten verbreiteten Falschmeldungen und prorussische Meinungen in Sozialen Netzwerken und verlinkten dann auf Fake-Webseiten, die denen bekannter Nachrichtenmedien zum Teil täuschend ähnlich nachgebaut wurden - nur dass auch dort prorussische Falschnachrichten verbreitet wurden.
Einmischung in Wahlen und politische Prozesse
Ein Hauptziel dieser Desinformationskampagnen ist es, die Unterstützung für die Ukraine in der Bevölkerung zu unterminieren. Ein anderes, die politische Stabilität im (demokratischen) Zielland zu zersetzen, indem extreme Parteien und deren Kandidaten gestärkt werden. Dies geschieht etwa durch finanzielle Unterstützung.
Im April hatte der tschechische Geheimdienst eine mutmaßlich von Moskau finanzierte Propaganda-Webseite namens "Voice of Europe" enttarnt, über die Schmiergeldzahlungen an verschiedene europäische Abgeordnete geflossen sein sollen.
Verdächtigt, solche Zahlungen entgegengenommen zu haben, wird unter anderem auch der AfD-Europaabgeordnete Petr Bystron. Er selbst bestreitet die Vorwürfe.
Bei dutzenden Wahlen in Europa und Nord- und Südamerika werfen westliche Geheimdienste Russland direkte oder indirekte Wahlbeeinflussung vor. So soll der russische Auslandssender RT im US-Präsidentschaftswahlkampf Videos zu kontroversen Themen wie Ukrainehilfen, Migration oder Wirtschaft produziert haben, die wiederum über rechte US-amerikanische Blogger verbreitet wurden.
Auch sogenannte Hack-and-Leak-Angriffe gehören zum Repertoire: dabei werden Politiker oder Parteien gezielt gehackt und vertrauliche Dokumente, teils sogar vermischt mit gefälschten weiteren Schriftstücken, kurz vor den Wahlen veröffentlicht. So geschehen etwa bei den US-Wahlen 2016 oder im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017.
Vereitelter Anschlagsplan?
Theoretisch fallen auch Anschläge auf gegnerische Führungskräfte unter die Mittel hybrider Kriegsführung. Dass Russlands Präsident Putin nicht vor Anschlägen im Ausland zurückschreckt, zeigt etwa der Berliner Tiergartenmord an einem tschetschenischen Ex-Kommandanten, der im Zweiten Tschetschenien-Krieg gegen Moskau gekämpft haben soll - oder die in Großbritannien verübten Anschläge auf Kremlkritiker Alexander Litwinenko 2006 oder den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia 2018.
Bislang fielen solchen Anschlägen vor allem russische Staatsbürger zum Opfer. Im Juli 2024 wurde jedoch bekannt, dass Russland ein Attentat auf Armin Papperger, den Vorstandsvorsitzenden des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall, geplant haben soll. Der Kreml bestreitet alle Vorwürfe. Rheinmetall liefert unter anderem Leopard-II-Panzer an die Ukraine.
Was tun?
Derzeit setze Russland in Europa viele verschiedene Nadelstiche, erklärte Sönke Marahrens, Bundeswehroffizier und Experte für hybride Sicherheit, in einem Interview mit tagesschau.de. "Russische Operateure probieren in vielen europäischen Staaten sehr unterschiedliche Dinge aus, die individuell auf den jeweiligen Staat zugeschnitten sind: Hybride Maßnahmen, die in Polen wirken, wirken nicht in Deutschland; was in Deutschland wirkt, würde nicht in Finnland wirken." Daher müsse man "auch in Zukunft […] mit einem sehr breiten Spektrum von Angriffen rechnen". Entsprechend hoch sei auch die Flexibilität, mit der man auf derartige Angriffe reagieren müsse.