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Faktencheck: Deutschen Kindern statt der Ukraine helfen?

Uta Steinwehr | Jan D. Walter
21. September 2023

Deutsche Hilfsorganisationen fordern angeblich, dass Geld für kranke deutsche Kinder statt für Panzerlieferungen an die Ukraine ausgegeben werden soll. Die ganze Geschichte ist frei erfunden, das Video dazu ein Fake.

https://p.dw.com/p/4Wd5d
Screenshot eines Telegram-Posts mit der angeblichen Kampagne auf einer Toilettenwand am Alexanderplatz in Berlin
Dieser russische Telegram-Post behauptet: "Ein deutscher Wohltätigkeitsfonds hat Komplizen ukrainischer Terroristen verärgert, indem er in Berlin Plakate aufhängte mit der Aufforderung, kranken deutschen Kindern zu helfen."

Immer wieder tauchen im Internet Fakes auf, die renommierte Medien imitieren, so auch die DW. Die Inhalte sind meist frei erfunden, dafür aber so detailliert erzählt, dass sie durchaus den Eindruck erwecken können, echt zu sein. Zumal manipulierte oder KI-generierte Bilder und Videos sie zu belegen scheinen.

Nun sind auf X, ehemals Twitter, Facebookund Telegram ein englisch untertiteltes Video sowie Screenshots daraus aufgetaucht, das von der Nachrichtenagentur Reuters stammen soll. Verbreitet werden die Posts überwiegend in russischsprachigen Kanälen, sie wurden teils mehr als 100.000 Mal angezeigt. Aber auch auf Englisch, Deutsch und sogar Japanisch finden sich Beiträge. 

Behauptung: Den Posts zufolge hat die deutsche Hilfsorganisation "Bunter Kreis Rheinland" angeblich eine Plakatkampagne in Berlin geschaltet, mit der sie Ausgaben für "10 Leben deutscher Kinder" und "1 Leopard"(-Panzer) gegenüberstellt - jeweils beziffert mit 29 Millionen Euro. Der "Bunte Kreis" ist eine deutschlandweit agierende Organisation mit regionalen Abteilungen, die Familien mit schwerkranken Kindern unterstützt.

Vierer Kompilation mit den Bildern vom Checkpoint Charlie, vom Alexanderplatz und zwei unidentifizierten Orten.
Die Bilder von der angeblichen Plakatkampagne sind durchaus gut gefälscht und wirken zunächst einmal echtBild: X

Einen expliziten Bezug zum Krieg in der Ukraine stellt die angebliche Kampagne nicht her. Diese Interpretation liefern das Video sowie einige Accounts, die es geteilt haben. Demnach habe die Kampagne eine "Welle der Empörung" unter Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland hervorgerufen sowie "die europäische Gesellschaft gespalten".

Auch unter politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren soll die Aktion eine Kontroverse ausgelöst haben: Während dem Video zufolge Karl Kopp, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl", die Aktion als "unverhohlen nazistisch" bezeichnet haben soll, sei Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach den angeblichen Kampagnenbetreibern zur Seite gesprungen: Niemand habe das Recht, die Gesundheit deutscher Kinder hinter die Interessen der Ukraine zu stellen. So zumindest ist wohl das teils holprige Englisch des Video-Untertitels zu verstehen.

DW Faktencheck: Fake

Die Fotos von der Plakatkampagne sind durchaus überzeugend gefälscht. Eine Bildrückwärtssuche ergibt keine Hinweise, dass die Bilder bereits älter sind und somit aus dem Zusammenhang gerissen sein könnten. Auch eine Bildanalyse mit gängigen Tools ist eher unauffällig. Warum die Plakate selbst dennoch Fälschungen sein müssen, erklären wir weiter unten.

Sprachliche und inhaltliche Widersprüche

Das angebliche Reuters-Video, das über die Plakataktion und die Reaktionen darauf berichtet, weist hingegen typische Fehler auf, die beim sogenannten "Spoofing" gemacht werden: Imitationen renommierter Medien wirken auf den ersten Blick oft echt, stimmen aber bei genauer Betrachtung meist nicht mit gängigen Standards überein. 

So fallen Formatfehler und sprachliche Ungereimtheiten in den Untertiteln auf, die englischsprachigen Medien-Profis nicht - oder zumindest nicht in dieser Häufung - unterlaufen würden. Es gibt mehrere überzählige Leerzeichen, Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung, fehlende Kommas; zudem herrscht ein grammatisches Durcheinander aus Verben in verschiedenen Zeitformen. Unsere Vermutung hat die Nachrichtenagentur auf DW-Nachfrage bestätigt: "Reuters hat dieses Video nicht veröffentlicht."

Screenshot eines Twitter-Posts mit dem gefälschten Reuters-Video
Es sieht aus wie ein Video der Nachrichtenagentur Reuters, das ist es jedoch nicht, wie die Agentur bestätigt. Das teils holprige Englisch in den Untertiteln ist dafür ein Hinweis. Bild: X

Zudem lief die Plakatkampagne laut Video im Juli 2023. Eine entsprechende Debatte hätte also längst stattgefunden und wäre auch durch deutsche Medien aufgegriffen worden - erst recht, wenn sich der Bundesgesundheitsminister dazu geäußert hätte.

Was sagen die angeblichen Kampagnen-Urheber?

Die DW hat alle Beteiligten angeschrieben und um Stellungnahmen gebeten.

Ralph H. Orth, Finanzvorstand beim "Bunten Kreis Rheinland", also der Organisation, die bei der Kampagne federführend gewesen sein soll, bestätigt der DW, dass seine Organisation eine solche Aktion nicht durchgeführt hat: "Da unsere Öffentlichkeitsarbeit aus Spenden finanziert wird, haben wir auch keine Möglichkeiten, solche Maßnahmen in Berlin - fernab von unseren Standorten im Rheinland - zu finanzieren." 

Ein Jahr Desinformationskrieg in der Ukraine

Auch der "Paritätische Wohlfahrtsverband" und die "Aktion Mensch", deren Logos ebenfalls auf den Plakaten zu sehen sind, weisen eine Beteiligung von sich. Die Logos seien ohne "Kenntnis und Zustimmung missbraucht" worden. "Die 'Aktion Mensch' ist in diese angebliche Kampagne nicht involviert und distanziert sich ausdrücklich von den präsentierten Inhalten", schreibt eine Sprecherin der durch Lotterieeinnahmen finanzierten Sozialorganisation.

Werbetafeln gar nicht mehr im Einsatz

"Wir können ausschließen, dass die im Post gezeigten Plakate jemals auf unseren Werbeflächen ausgehangen haben oder derzeit aushängen", schreibt ein Sprecher der Wall GmbH, Vermarkter für Außenwerbung, deren Logo auf mehreren der gezeigten Plakatwände zu sehen ist. 

DW Fact Check Screenshot Faktencheck Fake-Kampagne Berlin
Diese Werbetafel stand nach Angaben des Betreibers Wall GmbH im Juli 2023 gar nicht mehr am Checkpoint CharlieBild: X

Das Unternehmen weist darauf hin, dass es bei mindestens zwei der gezeigten Standorte logische Fehler gibt. Bereits seit 2019 gebe es auf öffentlichen Toiletten in Berlin, wie sie auf dem Bild vom Alexanderplatz zu sehen sind, keine Werbeflächen mehr für Kampagnen. Und die Plakattafel am Checkpoint Charlie wurde laut Wall GmbH bereits im Laufe des zweiten Quartals 2023 - also einige Wochen vor der angeblichen Kampagne - abgebaut.

In einem Screenshot ist eine Werbefläche des Konzerns Ströer zu sehen. Das Unternehmen bestätigte auf DW-Anfrage ebenfalls, dass es das Plakatmotiv nicht verbreitet hat.

Hat sich jemand zu der Fake-Kampagne öffentlich geäußert?

Das Bundesgesundheitsministerium hat auf DW-Anfrage mitgeteilt, dass Gesundheitsminister Lauterbach die angebliche Plakatkampagne nicht kommentiert hat - schon gar nicht in der im Video vorgetäuschten Weise: "Mehrfach hat er (Lauterbach, Anm. d. Red.) sich gegen den barbarischen russischen Angriffskrieg und für die Unterstützung der Ukraine ausgesprochen. Die Gesundheitsversorgung von Kindern in Deutschland mit der Ukrainehilfe aufzurechnen, ist instinktlos und liegt ihm fern."

Ähnlich hat Karl Kopp von "Pro Asyl" reagiert, der in dem gefälschten Video mit einem Nazi-Vergleich zitiert wurde: "Ich kenne diese sogenannte Kampagne nicht. Ich habe nichts kommentiert." Das von ihm gezeigte Video sei im Übrigen mehr als sechs Jahre alt.

Fazit: Um noch einmal Karl Kopp zu zitieren: "Das ist Fake von A bis Z." Die Kampagne ist ebenso erfunden wie die angeblichen Reaktionen darauf. Die Fotos von den angeblichen Plakaten sind gefälscht und das Video stammt auch nicht von der Nachrichtenagentur Reuters. 

Dieser Faktencheck ist unter Mithilfe von Kate Hairsine, Sean Sinico und Inna Zavgorodnya entstanden.

Dieser Artikel wurde nach Veröffentlichung um die Stellungnahme des Unternehmens Ströer ergänzt.

Mehr Faktenchecks und Informationen über Desinformation und Fakes finden Sie hier.

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.