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"Atomkraft verschlimmert die Klimakrise"

8. Februar 2021

Kann die Kernenergie uns dabei helfen, die Klimaziele zu erreichen? Der Herausgeber des World Nuclear Industry Status Report, Mycle Schneider, sagt nein und erklärt im DW-Interview die Gründe.

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Porträtfoto des Atomindustrieexperten Mycle Schneider, Herausgeber des jährlich erscheinenden World Nuclear Industry Status Reports
Bild: Nina Schneider

DW: Die Erderhitzung soll bei 1,5 Grad gestoppt werden. Welche Rolle kann die Atomkraft übernehmen?

Mycle Schneider: Wir müssen heute die Frage der Dringlichkeit an die erste Stelle stellen. Es geht darum, wie viel Reduktionen an Treibhausgasen kann ich wie schnell erreichen für jeden ausgegebenen Euro. Das heißt: Es ist die Kombination zwischen den Kosten und der Machbarkeit auf die schnellstmögliche Art und Weise.

Und wenn wir hier über Neubau von Stromerzeugungsanlagen reden, dann ist die Atomkraft schlicht ausgeschlossen. Nicht nur, weil sie heute die teuerste Form der Stromerzeugung ist, sondern vor allen Dingen, weil der Bau von Reaktoren sehr lange dauert. Das heißt: Jeder investierte Euro in neue Atomkraftwerke verschlimmert die Klimakrise, weil dieses Geld nicht für effizientere Klimaschutzoptionen zur Verfügung steht.

Infografik

Und was ist mit den bestehenden Atomkraftwerken?

Die Kraftwerke existieren, sie liefern Strom. Allerdings ist es heute so, dass viele Maßnahmen für mehr Energie-Effizienz billiger sind als die reinen Betriebskosten von Atomkraftwerken. Das ist der erste Punkt und dieser wird leider immer wieder vergessen.

Der Zweite ist, dass heute die Erneuerbaren so billig geworden sind, dass sie in vielen Fällen unter den reinen Betriebskosten von Atomkraftwerken liegen.

Ich nenne zwei Beispiele: Den weltweit niedrigsten Preis für Solarstrom gibt es derzeit in Portugal mit 1,1 Cent pro Kilowattstunde. Und wir haben jetzt die ersten Ergebnisse aus Spanien mit Kosten für Wind- und Solarstrom für rund 2,5 Cent pro Kilowattstunde. Das sind Kosten, die unterhalb der reinen Betriebskosten der weitaus meisten Atomkraftwerke auf der Welt liegen.

Oft könnte man sich sogar neben den Erzeugungskosten für Wind und Solarstrom noch 1–1,5 Cent pro Kilowattstunde für Stromspeicher leisten und bliebe unter den Betriebskosten von Atomkraftwerken. Und dann müssen wir hier die gleiche Frage stellen: Wie viel Emissionen kann ich vermeiden mit einem Euro, Dollar oder Yuan.

Warum werden dann jetzt noch Bauvorhaben angekündigt?

Ich habe oft das Gefühl, dass wir beim Thema Atomkraft beim Trumpismus gelandet sind. Fakten spielen keine Rolle mehr. Überall wird von Planungen und Projekten fabuliert. Aber in der Realität passiert wenig oder gar nichts. Wir dokumentieren das jedes Jahr im Detail auf über 300 Seiten in unserem World Nuclear Industry Status Report.

Welche Interessen stecken dahinter?

Das sind sehr klare Eigeninteressen. Wenn die Industrie heute nicht einmal mehr Phantomprojekte in die Welt setzt, dann stirbt sie noch schneller.

Und warum macht die Politik mit?

Hier gibt es verschiedene Interessen. Der französische Präsident [Emmanuel] Macron hat etwa bei einer Visite in der Schmiede Creusot Forge noch im Dezember 2020 klargestellt, dass es auch militärstrategische Interessen gibt, die Atomindustrie beizubehalten. Und Frankreich hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass die militärischen und zivilen Interessen im Bereich Atom eng verbunden sind.

In anderen Ländern wie China gibt es andere Interessen. China finanziert mit seiner Belt & Road-Initiative, bekannt unter dem Begriff Neue Seidenstraße, Infrastruktur in einer großen Anzahl Ländern. Das ist Geopolitik im großen Stil.

Die Mitfinanzierung zum Beispiel des Atomkraftwerks Hinkley Point C in Großbritannien steht in diesem Kontext. Da ist es dann irrelevant, dass es ein unwirtschaftliches Projekt ist. Die Größenordnung der chinesischen Infrastrukturinvestitionen ist gigantisch. Man spricht von 1000 Milliarden Dollar. Das heißt: Man muss sich jedes Land anschauen und in jedem Land gibt es Eigeninteressen.

Und welche Interessen haben Energieunternehmen noch, unrentable Reaktoren weiter zu betreiben?

Der wesentliche Grund ist, dass ein Atomkraftwerk in Betrieb Einkommen generiert. Sobald ein Atomkraftwerk außer Betrieb genommen wird, entsteht in der Bilanz Passiva und es entstehen zusätzliche Ausgaben.

Am Beispiel Japan kann man das sehen. Die offizielle Schließung von Atomkraftwerken hat oft Jahre gedauert, weil die Unternehmen es sich nicht leisten konnten, in der Bilanz diese Atomkraftwerke aus den Aktivposten herauszunehmen. Einige dieser Betreiber wären von heute auf morgen bankrott gegangen.

Es gibt keinen Zweifel, dass die Betreiber wie der Atomstromerzeuger EDF in Frankreich in einer sehr schweren finanziellen Krise sind. Die Frage ist: Wie werden sie das überleben? Längerfristig sicher nicht ohne massive staatliche Subventionierung. Aber solange noch Euros erwirtschaftet werden können, auch wenn sie nicht mehr profitabel sind, kommen die Fragen der Ausgaben für den Abriss und das Management des Abfalls nicht zum Tragen.

Wie hoch liegen die Kosten für den Abriss?

In der Größenordnung von einer Milliarde Euro pro Reaktor. In Frankreich hat man nur ein Drittel davon zurückgestellt. Das heißt: Das Problem fängt an, wenn Reaktoren vom Netz gehen.

Und was kostet die Endlagerung der hochradioaktiven Abfälle?

Die realen Kosten kennt keiner, weil es kein funktionierendes Endlager gibt.

Gibt es schon eine Aussicht auf ein funktionierendes Endlager irgendwo?

Es gibt zurzeit kein in Betrieb befindliches Endlager. Die am weitesten fortgeschritten Projekte sind in Finnland und Schweden. Allerdings basiert das Konzept dort auf einem Design der frühen 80er Jahre mit der Aufbewahrung in Kupferbehältern. Jedoch hat sich in neueren Forschungen herausgestellt, dass die Kupferbehälter wesentlich korrosionsanfälliger sind als angenommen. Das heißt: Die Inbetriebnahme in Schweden und Finnland ist noch völlig unklar. Und diese Situation gilt auch für andere Länder. Dort sind sie noch weiter zurück oder es gibt nicht einmal theoretische Konzepte, geschweige denn Standorte.

Wie weit sind die Länder in Asien?

In Japan gibt es keinen Standort, kein Konzept. Auch in Korea gibt es keinen Standort, kein Konzept. In China wird diskutiert, ob der Atommüll wieder aufgearbeitet werden soll oder nicht. Dort ist man weiter davon entfernt.

Im Grunde verhalten sich diese Länder genau wie die  Länder im Westen, wo die Atomkraftwerke zwei oder drei Jahrzehnte früher aufgebaut worden sind. Das heißt: Es gibt keine Vorausplanung und kein kohärentes Konzept, wie der hochradioaktive Müll für die Ewigkeit gelagert werden soll.

Mycle Schneider ist Herausgeber vom jährlich erscheinenden World Nuclear Industry Status Report (WNISR). Der WNISR ist ein unabhängiges Referenzwerk zur Entwicklung der globalen Atomkraftwerksindustrie. Schneider hat an zahlreichen Universitäten und Ingenieurschulen gelehrt und arbeitet als unabhängiger Berater für Regierungen und internationale Organisationen auf der ganzen Welt. Er lebt in Paris. 1997 bekam er den Alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award).

Das Interview führte Gero Rueter.

Deutschland sucht ein Endlager für den Atommüll

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Gero Rueter Redakteur in der Umweltredaktion