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PolitikMyanmar

Was wissen wir über die Massaker an den Rohingya?

6. September 2024

Im Bürgerkrieg in Myanmar kam es zu Massakern an Zivilisten. Viele Fragen sind noch ungeklärt. Bezichtigungen verschärfen die Lage.

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Zerstörung nach Kämpfen zwischen der Armee und der Arakan Army in Minbya, Rakhine-Staat im Mai 2021
Zerstörung nach Kämpfen im Minbya, Rakhine-Staat, Myanmar im Mai 2021Bild: AFP

Am 5. August kam es in Maungdaw, einer Stadt in Myanmars nördlichem Rakhine-Staat, zu einem tödlichen Angriff auf Zivilisten. Die Angaben zur Zahl der Opfer variiert stark. Zwischen 50 und 200 Menschen wurden laut Augenzeugenberichten getötet, darunter Frauen und Kinder.

Der Zwischenfall ist Teil einer Offensive im Rahmen des Bürgerkriegs in Myanmar. Am 4. August startete die Arakan Army, die große Teile des Rakhine-Staats kontrolliert, einen Angriff auf die Stadt Maungdaw. Die Arakan Army, kurz AA, ist die ethnische Armee der buddhistischen Rakhine und bekämpft die Militärregierung, den State Administrative Council (SAC), der das Land 2021 mit einem Putsch in eine neue Phase des Bürgergkriegs gestürzt hat.

In Maungdaw traf die AA auf die Truppen des SACs und verschiedene Milizen der muslimischen Rohingya, darunter vor allem die Rohingya Solidarity Organization (RSO), aber zum Teil auch die Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA). RSO und ARSA kämpfen mit dem SAC und damit an der Seite derjenigen, die 2017 noch für die gewaltsame Vertreibung von etwa 740.000 Rohingya nach Bangladesch verantwortlich waren. RSO und ARSA verfolgen aber auch eigene Ziele.

Flucht aus der Kampfzone

In den Tagen vor dem 4. August hat die AA die Zivilbevölkerung in Maungdaw, die fast ausschließlich aus Rohingya besteht, zur Evakuierung aufgerufen. Der SAC und die Rohingya-Milizen dagegen forderten die Bevölkerung zum Bleiben auf. Manche Bewohner wollten auch nicht gehen, um ihr Hab und Gut nicht zu verlieren.

Als die AA vorrückte, verschanzte sich der SAC in seinem Stützpunkt. Die Milizionäre der Rohinya und viele  Zivilisten ergriffen die Flucht. Dass unter den Flüchtenden Kämpfer des RSO waren, bestätigte sowohl ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Fortify Rights als auch Chris Lewa von der NGO The Arakan Network im Gespräch mit der DW.

Während der Kampfhandlungen erfolgte also zeitgleich eine chaotische Flucht. Als einziger Ausweg blieb der Weg Richtung Westen, wo der Grenzfluss Naf Myanmar von Bangladesch trennt. In der unübersichtlichen Lage kam es dann am 5. und 6. August zu mehreren tödlichen Angriffen und Zwischenfällen.

Der Fluss Naf fließt zwischen Bangladesch und Myanmar. Palmen, Büsche und Boote säumen die Ufer
Das Bild zeigt den Blick von Bangladesch nach Maungdaw in Myanmar. Zwischen beiden Ländern: der Fluss NafBild: Mohammad Ponir Hossain/REUTERS

Das Bild der Gesamtsituation ergibt sich aus Interviews, die die DW in den letzten Tagen geführt hat, sowie aus Presseberichten lokaler Medien und Bildmaterial, das öffentlich zugänglich ist. Unter den Gesprächspartnern waren die Rohingya Zainul Mustafa, Muhamad Husein und Umar Farok, der Historiker Jacques Leider, die Leiterin der lokalen NGO The Arakan Project Chris Lewa und der Sprecher der Arakan Army Khaing Thu Kha. Berichte der United League of Arakan, des politischen Arms der AA, der International Crisis Group und ein Bericht von Fortify Rights  wurden ebenfalls ausgewertet.

Die verschiedenen Quellen und Aussagen von Augenzeugen widersprechen sich zum Teil. Verschiedene Ereignisse werden räumlich und zeitlich nicht immer klar getrennt. Viele Aussagen sind pauschal. Es heißt etwa, die AA sei insgesamt verantwortlich oder die Rohingya-Milizen seien verantwortlich, ohne dass genau gesagt würde, für welche Tat, an welchem Ort und zu welcher Zeit. Die vermeintlichen Bild- und Videobeweise, die in den sozialen Medien kursieren, haben nur wenig Aussagekraft, wie folgendes Beispiel zeigt.

Angriff an der T-Kreuzung

Am 5. August 2024 veröffentlichte die Rohingya-Aktivistin Wai Wai Nu auf ihrem X-Account einen Thread, der von einer Massentötung bei Maungdaw berichtete. Mehr als 50 Rohingya sollten dort getötet worden sein. Sie veröffentlichte auch ein 1:21 Minuten langes Video, das Opfer eines Angriffs zeigt.

Die DW hat das Video analysiert, entschied sich aber, wegen des brutalen Inhalts und zum Schutz der Opfer gegen die Veröffentlichung bzw. Verlinkung. Nach Faktencheck durch die DW kann die Authentizität des Videos bestätigt werden. In den sozialen Medien verbreiteten sich mindestens noch zwei weitere Videos, die die gleiche Szenerie aus einer jeweils anderen Perspektive zeigen.

Auf den drei Videos sind insgesamt etwa 22 Leichen und mindestens vier Schwerverletzte zu sehen. Bei dem Ort handelt es sich um eine T-Kreuzung am Grenzfluss Naf westlich von Maungdaw (s. Screeshot).

Wenig aussagekräftige Belege

Für Markus Rothschild, Direktor der Rechtsmedizin an der Universität Köln, dem die DW die Aufnahmen gezeigt hat, reicht die Qualität der Videos für detaillierte Aussagen nicht aus. Er ist aber sicher, dass die Aufnahmen in engem zeitlichem Zusammenhang zum Ereignis stehen, da die Toten noch keine deutlichen Spuren der Fäulnisbildung zeigen. Da das Video am 5. August veröffentlicht wurde, fallen die abgebildeten Ereignisse wahrscheinlich auf den gleichen Tag. Die Offensive der AA begann ja erst am 4. August.

Als Todesursache deute vieles auf "ein ballistisches Trauma" hin, so Rothschild. Ein ballistisches Trauma ist eine Verletzung, die von einem Projektil etwa aus einem Gewehr oder durch Splitter einer Explosion verursacht wurde.

Was den Videos nicht zu entnehmen ist: Wer für den Angriff verantwortlich ist, von wo er ausgeführt wurde und welche Waffen genau zum Einsatz kamen. Denkbar seien Schusswaffen, aber auch Drohnen, die in einigen Metern über dem Boden zu Explosion gebracht wurden, so Rothschild im Gespräch mit der DW. Da es keine Einschlagskrater gibt, seien Artilleriemunition oder Mörser mit Aufschlagzünder eher auszuschließen.

Die Videos beweisen zwar, dass Menschen zu Tode gekommen sind, aber nicht, wie es im Einzelfall dazu kam und wer verantwortlich ist.

Umgang mit der Ungewissheit

Diese Beobachtung gilt nicht nur für die Attacke an der T-Kreuzung, sondern für das Geschehen in Maungdaw vom Anfang August insgesamt. Zum jetzigen Zeitpunkt basieren alle Täterzuschreibungen auf Zeugenaussagen, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen.

Selbst ein Eigenbeschuss ist in der unübersichtlichen Lage nicht auszuschließen, also das versehentliche Attackieren eigener Kämpfer oder der eigenen Bevölkerung. Auch ein Täuschungsmanöver ist denkbar, bei dem die Täter in einer sogenannten "False-Flag-Operation" ihre Identität zu verschleiern versuchen. Unstrittig ist aber, dass alle Kriegsparteien zu wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen und damit Kriegsverbrechen begehen.

Deeskalation statt Anschuldigungen

Viele unbeantwortete Fragen lassen großen Spielraum für Spekulationen und Anschuldigungen. So sprechen die Rohingya-Aktivisten im Ausland und die Rohingya-Milizen in Myanmar von einen neuen Genozid durch die AA und setzen die AA damit mit dem SAC gleich.

Umgekehrt glaubt der AA-Sprecher Khaing Thu Kha im Gespräch mit der DW, dass die Aktivisten im Ausland nicht aus Sorge um die Rohingya handeln, sondern, weil es ihnen um "persönliche Vorteile geht. Sie benutzen die Rohingya, um von internationalen Gebern und Organisationen zu profitieren".

Während die Aktivisten pauschal von Genozid sprechen, differenziert auch die AA nicht immer genug zwischen den Rohingya und RSO bzw. ARSA. Dabei repräsentieren die Milizen die Rohingya nicht, sondern beuten sie ihm Gegenteil aus.

Senior General Min Aung Hlaing bei einer Armeeparade in der Hauptstadt Naypyitaw
Senior General Min Aung Hlaing Armee führt seit dem Putsch im Februar 2021 einen Mehrfrontenkrieg. Die Militärregierung verliert dabei mehr und mehr an Boden (Archivbild vom März 2021)Bild: REUTERS

"Die Frage ist doch: Wie lässt sich deeskalieren?", sagt Chris Lewa vom The Arakan Network im Gespräch mit der DW. Dazu gehöre zuerst einmal eine rhetorische Abrüstung. "Hassrede gibt es auf beiden Seiten." Und sie erschwere die notwendige Zusammenarbeit, an der aber kein Weg vorbei führe, denn "die internationale Gemeinschaft wird niemanden retten", so Lewa. Am Ende müssten die Rohingya und die Rakhine zusammenleben. Das könne auf der lokalen Ebene gelingen, wenn lokale Community-Führer zusammenarbeiten. Und es gibt Beispiele im Rakhine-Staat, wo es gelingt.

Alle leiden unter dem Bürgerkrieg

Dabei helfen könne auch, anzuerkennen, dass nicht nur die Rohingya, sondern auch die Rakhine unter dem Bürgerkrieg leiden. Auch Rakhine haben in den Konfliktgebieten ihre Häuser verloren, haben nicht genug zu essen und leben mit der ständigen Angst, vom Militär bombardiert zu werden. Die Versorgungslage ist im gesamten Rakhine-Staat sehr schlecht, wie auch Khaing Thu Kha bestätigt. Es fehlt an Nahrung, sauberem Trinkwasser und Medizin. Hauptverantwortlich ist das SAC, das die Versorgungswege aus Myanmar blockiert. Das bestätigt auch der Bericht der International Crisis Group. Im Rakhine-Staat leben circa drei Millionen Menschen. Laut UNOCHA ist dort aktuell etwa jeder Zehnte auf der Flucht und dringend auf Hilfe angewiesen.

Der eigentliche Ursprung der Misere ist das SAC, so Lewa. Und die aktuelle Konfrontation im Rakhine-Staat gehe vor allem auf das Wehrpflichtgesetz des Militärs zurück, mit Hilfe dessen das SAC die Rohingya in eine Zwangslage gebracht hat: "Sie hat die Rohingya gezwungen, sich in diesem Krieg für eine Seite zu entscheiden, einen Krieg mit dem sie eigentlich nichts zu tun haben und in dem sie auch nichts gewinnen können."

Zum Wehrdienst gezwungen: Massenflucht aus Myanmar

Rodion Ebbinghausen DW Mitarbeiterfoto
Rodion Ebbighausen Redakteur der Programs for Asia