Ukrainer zu Friedensverhandlungen mit Russland bereit
17. Juli 2024In der Ukraine wird immer häufiger über Friedensverhandlungen mit Russland gesprochen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte mögliche Vereinbarungen mit der jetzigen russischen Führung in der Vergangenheit stets abgelehnt und sogar ein Dekret erlassen, wonach Gespräche mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgeschlossen sind. Doch nun ändert sich offenbar die Situation. Selenskyj glaubt jetzt, dass Vertreter Russlands beim zweiten "Friedensgipfel" anwesend sein sollten, den die Ukraine im November abhalten will.
Zeit für Verhandlungen gekommen?
Gleichzeitig glauben 44 Prozent der Ukrainer in Gebieten hinter der Front, dass es an der Zeit sei, offizielle Gespräche zwischen Kiew und Moskau aufzunehmen. 35 Prozent meinen, dass es keinen Grund für die Aufnahme von Friedensverhandlungen gibt, und 21 Prozent sind unentschlossen, so die Ergebnisse einer Umfrage, die das ukrainische Rasumkow-Forschungszentrum im Auftrag des Online-Portals ZN.UA vom 20. bis 28. Juni 2024 durchgeführt hat.
Der Umfrage zufolge sind die Ukrainer jedoch kategorisch dagegen, dass die Ukraine die von Putin jüngst aufgestellten Bedingungen für eine Beendigung des Krieges erfüllt. So lehnen fast 83 Prozent der Befragten einen Abzug der ukrainischen Truppen aus den verbleibenden, nicht von Moskau kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja ab. Etwa 84 Prozent der Befragten sind dagegen, diese Gebiete an Russland abzutreten. Zudem sind 77 Prozent gegen eine Aufhebung aller westlichen Sanktionen gegen Russland.
Was einen neutralen, block- und nuklearfreien Status der Ukraine angeht, ist die Haltung der Bevölkerung in den von Kiew kontrollierten Gebieten weniger eindeutig. So sind 58 Prozent der Befragten gegen einen solchen Status und 22 Prozent dafür.
Auf die Frage, was die Mindestbedingung für den Abschluss eines Friedensvertrags mit Russland sei, sagten über 51 Prozent, dass man die Ukraine von den russischen Besatzungstruppen befreien müsse, und zwar in ihren Grenzen von 1991. Obwohl die Mehrheit der Ukrainer sich eine Rückkehr zu diesen Grenzen wünscht, ist fast jeder zweite Ukrainer (46 Prozent) der Meinung, dass es keine Schande sei, den Kriegsdienst zu verweigern. Nur 29 Prozent vertreten die gegenteilige Meinung, weitere 25 Prozent sind unentschlossen.
Was die ukrainische Gesellschaft verwirrt
"Das zeigt die Frustration der Bevölkerung. Die Menschen wissen nicht, welche Aussichten sie selbst und das Land an sich unter den Bedingungen des Krieges haben. Gerade dies signalisieren solche paradoxen Antworten der Gesellschaft", sagte Oleh Saakjan, Politologe und Mitbegründer der "Nationalen Plattform für Stabilität und Zusammenhalt", gegenüber der DW. Die große Bereitschaft zu Friedensverhandlungen zeige, dass sich die bisherigen Bemühungen, die Bevölkerung zu mobilisieren und Einigkeit herzustellen, erschöpft hätten, da sie auf einen kurzen Krieg ausgerichtet seien: "Wir sind in einen langen Krieg geraten, und weder die Behörden noch die Eliten haben den Menschen eine Vision davon angeboten, wie sie in der Ukraine unter Bedingungen eines permanenten Krieges oder in Kriegsgefahr leben sollen",
Seiner Meinung nach beginnt alles, was "auf die Zeit nach dem Krieg" verschoben wurde, wie der Kampf gegen Korruption, Vetternwirtschaft und ineffektive Verwaltung, die Ukrainer zu beunruhigen. Denn den Menschen sei klar geworden, dass der Krieg noch lange andauern würde. "Mobilmachung, Machtmissbrauch, Energie- und Wirtschaftsfragen, Befestigungen an der Front und Verteidigung - all dies ist derzeit für die Gesellschaft äußerst aktuell, weil der Krieg weitergeht und diese Probleme ungelöst sind. Gleichzeitig wünscht sich die Gesellschaft einen Sieg, aber es ist offen, wie er erreicht werden kann", erläutert Saakjan.
Ihor Rejterowytsch von der Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew stellt fest, dass der ukrainische Präsident die Grenzen von 1991 als Voraussetzung für Frieden mit Russland seit einigen Monaten praktisch nicht mehr erwähnt, aber auch nicht von neuen gesprochen hat. Das verwirre die ukrainische Gesellschaft, meint der Experte und betont im Gespräch mit der DW: "Dadurch kommt, dass einerseits die Mehrheit alle Gebiete zurückhaben will, und andererseits sagt die Hälfte, dass Kriegsdienstverweigerung kein Problem sei. Die Antworten sind ambivalent. Deshalb muss man sich damit befassen und über eine Lösung nachdenken, die die ukrainische Gesellschaft einen kann und mit der sie leben kann."
Wie unter Kriegsbedingungen leben?
Um die Unterstützung der Ukrainer für ihre Initiativen zu gewinnen, sollte die Regierung einen offenen Dialog mit der Gesellschaft über die Zukunft beginnen und eine Vision entwickeln, wie man unter den Bedingungen des Krieges weiterleben kann. Dabei sollten möglichst viele Menschen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, so die Experten.
Gleichzeitig stellen sie fest, dass ambivalente Reaktionen auf komplexe Probleme ein normales Phänomen für Gesellschaften sind, die sich in völliger Unsicherheit befinden. "Die Stimmung in der Öffentlichkeit muss stets beobachtet und Dynamiken erkannt werden, damit man sich auf Herausforderungen sorgfältig vorbereiten kann", erklärt Mychajlo Mischtschenko vom Rasumkow-Forschungszentrum.
Die von der DW befragten Experten sind sich einig, dass solche Umfragen derzeit notwendig sind, damit die ukrainische Führung mögliche Optionen für die künftige Entwicklung klar formulieren und den zweiten "Friedensgipfel" entsprechend vorbereiten kann. Sie würden ihr zudem starke Argumente für Verhandlungen über einen Friedensplan geben.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk