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PolitikTunesien

Tunesien: Präsidentschaftswahlen ohne Opposition

9. September 2024

Vor den Präsidentschaftswahlen in Tunesien im Oktober kritisieren Beobachter einen harten Kurs gegen die Opposition und warnen vor unfairen Wahlen. Kehrt das Land zur autoritären Herrschaft zurück?

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Unterstützer von Kais Saied mit einem Plakat des Präsidenten
Strebt eine weitere Amtszeit an: der tunesische Präsident Kaies Saied. Bild: Hasan Mrad/ZUMA/IMAGO

Entzieht Tunesiens Präsident Kais Saied den Präsidentschaftswahlen am 6. Oktober die demokratische Grundlage? Diese Sorge äußern Beobachter und Experten. Denn ursprünglich hatten 17 Kandidaten ihre Kandidatur angekündigt. Doch 14 von ihnen wurden bislang entweder festgenommen oder von der Kandidatur ausgeschlossen.

Am Montag vergangener Woche hatte die Wahlbehörde Tunesiens insgesamt gerade einmal drei Kandidaten zugelassen. Viele Beobachter halten die Kommission nicht für unabhängig, da Präsident Saied alle sieben Mitglieder selbst nominiert hat. Neben Saied selbst wurden nur der ehemalige Parlamentsabgeordnete Zouhair Maghzaoui und der Geschäftsmann Ayachi Zammel, Vorsitzender einer kleinen wirtschaftsfreundlichen Partei, als Kandidaten zugelassen.

Ob Zammel tatsächlich kandidieren kann, ist noch keineswegs klar: Nach seiner Zulassung als Kandidat wurde er am 4. September von der Polizei vorübergehend festgenommen. Sein Anwalt erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press, sein Mandant sei beschuldigt worden, Unterschriften gefälscht zu haben. Zammel selbst bestreitet den Vorwurf.

Hartes Durchgreifen

"Es kann sein, dass wir Wahlen erleben - und die Kandidaten sitzen im Gefängnis", sagt Romdhane Ben Omar, Sprecher der nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisation "Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte", gegenüber der DW.

Die jüngste Entscheidung der ISIE, nur Saied, Maghzaoui und Zammel als Kandidaten zuzulassen, steht im Widerspruch zu einem Urteil des tunesischen Verwaltungsgerichts vom 31. August. Dieses hat als rechtsverbindliche Instanz die ausschließliche Zuständigkeit für Streitigkeiten über die Kandidatur bei Wahlen. Das Gericht ließ drei weitere Kandidaten wieder zu, die zuvor gegen ihren Ausschluss geklagt hatten.

"Dadurch, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die Zulassung der drei anderen Kandidaten missachtet wurde, hat der Wahlprozess letztlich seine Legitimation verloren", sagt Heike Löschmann, Leiterin des Tunis-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, die der deutschen Partei Bündnis 90/Die Grünen nahesteht.

 Kundgebung in Tunis gegen den harten Kurs des Präsidenten gegen die Opposition, 2. September 2024
Demonstration gegen harten Kurs gegen Opposition. Kundgebung in Tunis, 2. September 2024Bild: Hasan Mrad/ZUMAPRESS./picture alliance

Der 66 Jahre alte ehemalige Jura-Professor Saied wurde 2019 mit einer Mehrheit von 72 Prozent der Stimmen demokratisch zum Präsidenten gewählt. Doch im Juli 2021 begann er, seine Macht zu festigen und die meisten demokratischen Organe des Landes zu demontieren.

Rückkehr zur autokratischen Herrschaft?

Seitdem ist die Unterdrückung politisch Andersdenkender und unabhängiger Medien sowie die Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz mehreren Menschenrechtsorganisationen zufolge fester Bestandteil der neuen tunesischen Politik. In diesem Sommer entließ Saied auch die Mehrheit der Kabinettsmitglieder und untersagte es führenden Oppositionellen, sich öffentlich über die Wahl zu äußern.

"Die derzeitige Situation ist beispiellos. Denn der Präsident will wiedergewählt werden, indem er Konkurrenten ausschaltet und keinerlei Wettbewerb oder freie und faire Wahlen zulässt", sagte Hamza Meddeb, in Tunis ansässiger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Denkfabrik Carnegie Middle East Center, im DW-Gespräch. Die jüngste Entwicklung könne die Errungenschaften des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 zunichte machen: "Ein Jahrzehnt lang war Tunesien in der Region ein Leuchtturm der Demokratie. Nun durchläuft es eine autokratische Restauration. Es gibt kaum noch Hoffnung, dass es auf einen demokratischen Weg zurückfindet."

Saied selbst sieht die Lage anders. "Auf niemanden wurde Druck ausgeübt", sagte er im August der staatlichen tunesische Presseagentur zufolge. "Diejenigen, die sich über Hindernisse und Schwierigkeiten beklagen, versuchen, Chaos und Zwietracht zu säen und Gerüchte und Lügen zu verbreiten." Die vergangenen drei Jahre von Saieds Herrschaft haben auch zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung geführt. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr wurde eine historisch niedrige Wahlbeteiligung von nur elf Prozent verzeichnet.

Hatz gegen Migranten

In seiner Wahlkampagne erklärte Saied, seine Wiederwahl sei der Schlüssel für den von einer Migrationskrise geprägten "nationalen Befreiungskriegs". Saied habe Migranten wiederholt als "Bedrohung für die Gesellschaft" bezeichnet und sich selbst als Retter dargestellt, sagt Medded.

Tunesien hat sich im Laufe der Zeit zu einem der meistgenutzten Ausgangspunkte für Migranten aus Ländern südlich der Sahara auf dem Weg nach Europa entwickelt. Infolge eines im Sommer 2023 abgeschlossenen Abkommens mit der Europäischen Union zur Unterstützung der kränkelnden tunesischen Wirtschaft in Höhe von einer Milliarde Euro dämmte Tunesien die Migration nach Italien ein. Angaben italienischer Behörden zufolge führte dies zu einem Rückgang von 70 Prozent. 

Migranten in Sfax vor einer Ausgabestelle für Wasser, Mai 2024
Zielscheibe der feindlichen Rhetorik des Präsidenten: Migranten in der Hafenstadt Sfax, Mai 2024Bild: Yassine GaidiAnadolu/picture alliance

Druck auf Nichtregierungsorganisationen 

Zunehmend richtet sich der harte Kurs gegen Migranten auch gegen tunesische Nichtregierungsorganisationen, die Migranten helfen. So wurden in diesem Sommer mehrere Büros solcher Organisationen geschlossen, Konten beschlagnahmt und Personen verhaftet. Darunter ist Saadia Mesbah, Leiterin der Nichtregierungsorganisation (NGO) Mnemti, die sich auf die Verteidigung von Migranten aus Subsahara-Ländern spezialisiert hat. 

"Saadia Mesbah befindet sich nach wie vor in Haft, und das, obwohl keine offizielle Anklage gegen sie erhoben wurde", eklärt Ziad Rouini, Koordinator der Organisation, über den Messenger-Dienst Telegram - sein Telefon, fürchtet er, werde von den Behörden abgehört.

Auch Romdhane Ben Omar vom "Tunesischen Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte" glaubt, dass die repressiven Maßnahmen die Errungenschaften des Arabischen Frühlings zunichte machen. "Der derzeitige Kurs Saieds untergräbt die verbleibenden Errungenschaften der Revolution wie etwa Freiheit, Pluralismus und Meinungsfreiheit, sagt er. "Zugleich verbietet er nun auch jede Form von Solidarität und Hilfe."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.