Tunesien: Menschenrechtsaktivistin im Hungerstreik
24. Januar 2025Für die 74-jährige tunesische Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine ist es im Frauengefängnis Manouba längst unerträglich geworden. "Ich halte diese Ungerechtigkeit, die mir angetan wird, nicht mehr aus", postete sie am 14. Januar auf ihrer Facebook-Seite. "Ich werde mich um jeden Preis aus diesem schwarzen Loch herauskämpfen, in das man mich ohne jeden Grund geworfen hat." An diesem Tag begann sie ihren Hungerstreik.
Seit vergangenem August befindet sich Bensedrine in Untersuchungshaft. Ihr werden nicht nur Betrug und die "Erlangung unlauterer Vorteile" vorgeworfen, sondern auch die Fälschung von Teilen eines offiziellen Berichts der tunesischen Kommission für Wahrheit und Würde, deren Leiterin sie war.
Ihr Anwalt, Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Nationen bezeichnen die Vorwürfe als haltlos. "Es gibt keine Rechtfertigung für ihre Haft", erklärt Ayachi Hammami, ein Mitglied ihres Verteidigungsteams und bekannter Menschenrechtsaktivist der DW. "Es wäre etwas anderes, wenn Bensedrine die Sicherheit gefährden würde oder wenn sie Einfluss auf die Beweise in ihrem Fall nehmen könnte", macht er deutlich. "Meiner Meinung nach unterscheidet sich Bensedrines Haft nicht von der zahlreicher anderer inhaftierter politischer Oppositioneller, die nur anderer Ansichten sind als die tunesischen Behörden."
Laut dem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht zur Menschenrechtslage weltweit, dem Human Rights Watch World Report 2025, befanden sich im November mehr als 80 Personen aus politischen Gründen oder wegen Ausübung ihrer Grundrechte in Tunesien in Haft.
Demokratische Institutionen werden ausgehöhlt, politische Gegner inhaftiert
Die Lage der Menschenrechte folgt in Tunesien einer Abwärtsspirale, seit Präsident Kais Saied im Juli 2021 begann, seine Macht aggressiv zu festigen. Schritt für Schritt höhlt er die demokratischen Institutionen des Landes aus, darunter auch das Justizwesen, das nicht länger unabhängig ist. In Saieds Darstellung handelt es sich dabei um notwendige und gerechtfertigte Schritte in einem "nationalen Befreiungskrieg", der das Land von Problemen befreien soll, die durch wirtschaftliche Krisen und Migranten verursacht würden.
Im vergangenen Sommer verschärfte sich die Lage erneut, als vor den Präsidentschaftswahlen die meisten Kandidaten entweder nicht gegen Saied antreten durften oder inhaftiert wurden. Zahlreiche Journalisten und Aktivisten, darunter auch Sihem Bensedrine, wurden ebenfalls inhaftiert. Im Oktober wurde Saied in einer Wahl, die von Beobachtern als weder frei noch demokratisch eingestuft wurde, für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Das ist nicht nur eine schlechte Nachricht für mögliche politische Gegner Saieds, sondern auch für die Arbeit von Menschenrechtsaktivisten und ganz besonders für Aktivisten, die Missstände in der tunesischen Vergangenheit untersuchen.
Keine Gerechtigkeit für Opfer früherer Regime
Der Unterschied zu der Zeit im Jahr 2011, als das Land nach dem Arabischen Frühling als Vorzeigedemokratie der Region galt, könnte kaum größer sein.
Von allen Ländern, die den Arabischen Frühling erlebten, hat nur Tunesien mit der Kommission für Wahrheit und Würde (Instance Verité et Dignité, IVD) ein offizielles Gremium eingerichtet, das den Tausenden Opfern von Menschenrechtsverletzungen unter den Regimen zwischen 1955 und 2013 Gerechtigkeit verschaffen sollte.
Während des vierjährigen Bestehens der Kommission wurde Sihem Bensedrine zu deren Leiterin ernannt. In vier Jahrzehnten hatte sie zuvor umfassende Erfahrungen als Menschenrechtsaktivistin gesammelt.
Aber nicht alle schätzten die Arbeit dieser Kommission. Sicherheits- und Justizbehörden verhinderten zum Beispiel mehrfach den Zugang zu den Archiven für die Beweisaufnahme und weigerten sich, die Namen beschuldigter Politiker zu veröffentlichen. Dennoch gelang es der IVD, mehr als 62.000 Strafanzeigen und etwa 10.000 Fälle von Folter zu dokumentieren. Im Dezember 2018, zum Ende ihres Mandats hin, leitete die Kommission 205 Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen durch Politiker, Angehörige des Sicherheitsapparats und von Geschäftsleuten an die tunesische Sondergerichtskammer weiter. 23 dieser Fälle befassten sich mit Korruptionsvorwürfen gegen Vertreter des Staates.
Seitdem hat sich kaum etwas getan. Die Zivilkoalition zur Verteidigung der Übergangsjustiz konnte in den vergangenen sechs Jahren kein einziges Urteil registrieren. Im Mai 2022 erließ Saied zudem per Dekret ein Gesetz, das wegen Finanzdelikten strafrechtlich verfolgten Geschäftsleuten eine Amnestie gewährte, wenn sie sich verpflichteten, ihre unrechtmäßig erworbenen Gewinne zurückzuzahlen oder in die regionale Entwicklung zu investieren. Im selben Jahr wurden aus der neuen Verfassung des Landes, die von Saied selbst entworfen worden war, die Garantieren für eine Übergangsjustiz gestrichen.
Inzwischen ist der tunesische Menschenrechtsaktivist Abdel Ben Ghazi kurz davor, sämtliche Hoffnung zu verlieren, dass die Regierung ihr Versprechen einer Übergangsjustiz jemals einhalten wird. "Bislang hat keines der Opfer in irgendeiner Form Gerechtigkeit erfahren", sagt er zur DW. Sie alle würden noch immer leiden.
Zehrender Hungerstreik
Für die Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine sind das keine guten Nachrichten. "Ein früheres Mitglied der Kommission behauptete im Mai 2020, Bensedrine habe den Teil des Berichts, der sich auf Korruption im Bankensektor bezieht, im Wesentlichen gefälscht", berichtet Bassam Khawaja der DW. Der stellvertretende Leiter der Abteilung Nahost und Nordafrika bei Human Rights Watch betont: "Wir haben diesen Vorwurf überprüft und sind der Überzeugung, dass er haltlos ist."
Als Bensedrine am 1. August verhaftet wurde, schrieb Khawaja auf der Website von Human Rights Watch, es handle sich "um einen klaren Fall von Vergeltung. Die Behörden sollten Bensedrine umgehend freilassen, die Anklage fallen lassen und damit aufhören, Verteidiger von Menschenrechten zur Zielscheibe zu machen." Auch aus Sicht der Vereinten Nationen kann die Verhaftung von Bensedrine "als gerichtliche Schikane" für die Arbeit gewertet werden, die sie als Leiterin der Kommission geleistet hatte. Sie scheine darauf abzuzielen, den Bericht der Kommission "zu diskreditieren".
Am Donnerstag, dem neunten Tag ihres Hungerstreiks, erhielt Bensedrine Besuch von Mitgliedern der tunesischen Gesellschaft für die Verteidigung der Menschenrechte, dem Hohen Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen und von ihrem stellvertretenden Anwalt. In einer Erklärung auf ihrer Facebook-Seite berichteten sie danach, Bensedrine zeige besorgniserregende Anzeichen von Erschöpfung und müsse tagsüber mit Sauerstoff versorgt werden.
Die DW hat Präsident Kais Saied um eine Stellungnahme gebeten, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aber noch keine Antwort erhalten.
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.