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Vergrößert der "Lockdown" die Risikogruppe?

Tobias Oelmaier
17. November 2020

Sport ist in der aktuellen Corona-Situation nur sehr eingeschränkt möglich. Das könnte langfristig auch Folgen für die Gesundheit der Menschen haben, warnt ein Experte. Die Regierung versucht es derweil mit Ironie.

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Sport und Corona | Joggen | Symbolbild
Bild: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

"Wir taten nichts, absolut gar nichts, waren faul wie die Waschbären", berichtet ein älterer Herr mit dem fiktiven Namen Anton Lehmann in einem Video, das die Bundesregierung unter dem Hashtag #besonderehelden jüngst auf Twitter verbreiten ließ. Der Mann blickt aus der fernen Zukunft zurück in den Herbst 2020. Dann der Umschnitt: Der Film zeigt ihn nun als jungen Mann, der auf dem Sofa liegend Chips und Cola konsumiert. Die Stimme erzählt weiter: "Tage- und nächtelang blieben wir auf unserem Arsch zu Hause und kämpften gegen die Ausbreitung des Coronavirus." In einem weiteren Clip schwärmt ein anderer fiktiver Charakter von der Zeit vor der Spielekonsole während des Lockdowns.

Zuhause bleiben, Essen, Passivität - das sind einige der Lösungsvorschläge der Regierung, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Vermittelt werden sollen diese auf ironische Weise in den kurzen Videos. Dabei könnte das dargestellte Verhalten auf Dauer die Risikogruppe, die Gesundheitsminister Jens Spahn Anfang November auf 30 bis 40 Millionen Menschen allein in Deutschland bezifferte, noch vergrößern. Das Robert-Koch-Institut (RKI) rechnet dieser Gruppe vor allem ältere Personen zu, aber auch Menschen mit Herzkreislauferkrankungen oder Diabetes, sowie Fettleibige (Adipositas) und Raucher.

"Bewegungsarmut ist kontraproduktiv"

Professor Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule in Köln erklärt im Gespräch mit der DW, dass diese Gruppe durch die Lockdown-Maßnahmen sogar um bis zu zehn Prozent anwachsen könnte: "Allein in Deutschland sterben jährlich 50.000 bis 60.000 Menschen an den Folgen von Diabetes Typ 2." Häufig sei diese typische Zivilisationskrankheit laut Froböse unter anderem auf Bewegungsmangel zurückzuführen. "Da würde ich mir Konzepte wünschen, statt diese Menschen jetzt durch Bewegungsarmut und Isolation in diese Situation hineinzutreiben. Das ist absolut kontraproduktiv."

Das Sporttreiben ist in Deutschland seit dem 2. November nur noch individuell oder maximal zu zweit an der frischen Luft erlaubt. Fitnessstudios, Schwimmbäder, Sportanlagen und Vereine sind für Freizeit- und Breitensportler, also für die Masse der Bevölkerung, derzeit geschlossen. Joggen oder Radfahren sind wie Spaziergänge weiter möglich, jedoch nicht in Gruppen.

Ingo Froböse | Sportwissenschaftler
Sportwissenschaftler Ingo Froböse: "Großes Problem droht"Bild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Dagmar Freitag: "Wir müssen da durch"

Als "aktuell leider fast alternativlos" bezeichnet Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag, die derzeit geltenden Einschränkungen. "Das Ansteckungsrisiko ist beim Joggen zu zweit an der frischen Luft ja doch ein anderes, als zum Beispiel bei einem Trainingsduell in einer Kampfsportart in der Halle. Und das Risiko steigt mit jedem weiteren Trainingsteilnehmer", warnt die SPD-Abgeordnete und betont aber auch, dass der Sport aktuell genauso fehle, wie Kino-, Theater- und Restaurantbesuche. "Aber es hilft nichts, wir müssen da gemeinsam durch", sagt Freitag. 

Es stellt sich die Frage, ob der Sport durch diese zwangsweise Entwöhnung an gesellschaftlicher Relevanz verlieren könnte. "Ich gehe davon aus, dass wir zwei grundsätzliche Probleme haben," sagt Ingo Froböse: "Erstens gehen wir davon aus, dass ein Drittel der zehn Millionen Mitglieder von Fitnessstudios gekündigt hat oder noch kündigen wird. Das zweite Problem ist: Wenn Kinder und Jugendliche keinen Sport treiben können, wenden sie sich anderen Dingen zu." Diese wieder neu für den Sport zu begeistern, werde nach seiner Ansicht nach ein großes Problem. "Auch hier gehe ich davon aus, dass wir mindestens ein Drittel der Personen verlieren werden." 

Kein Beleg über die Gefahr durch Sport

Dabei, so der Sportwissenschaftler, sei doch gar nicht bewiesen, dass der Sport im Studio oder im Verein wesentlich zur Verbreitung des Virus beiträgt: "Entsprechende Studien gibt es nicht", sagt Froböse und attestiert der Politik Planlosigkeit. "Der Sport ist, wie zum Beispiel auch die Restaurants, leider Opfer eines Herumstocherns im Nebel. Da musste jemand dran glauben. Das ist unter anderem mal wieder der Sport, weil er einfach keine Lobby hat."

Leichtathletik Deutsche Hallenmeisterschaften in Leipzig Dagmar Freitag
SPD-Sportpolitikerin Dagmar Freitag: "Müssen da durch"Bild: picture-alliance/G. Chai von der Laage

Diese Vorwürfe will Dagmar Freitag so nicht akzeptieren. "Auch wenn wir auf der Bundesebene 'nur' für Spitzensport verantwortlich zeichnen, wissen wir sehr wohl, dass das gesamte System auf unserer soliden Vereinsbasis beruht", sagt die Politikerin und verweist auf die Corona-Konjunkturprogramme für Investitionen in Sportstätten. Zudem seien die Landessportbünde in engem Austausch mit den jeweiligen Landesregierungen.

Spätfolgen durch Inaktivität?

Freitag räumt aber eine in der Tat "fast tragische Situation" ein, in der sich der Sport befinde, da man wisse, wie wichtig "physische und psychische Gesundheit sind - insbesondere in außergewöhnlichen Stresssituationen". Dennoch könne man auch in dieser Ausnahmesituation auf einen gesunden Lebensstil achten. Sie sei außerdem zuversichtlich, dass "der Sport, wie wir ihn kennen und lieben zurückkehren" werde. 

Ingo Froböse teilt diesen Optimismus nicht. "Ich würde wenigstens die Kinder und Jugendlichen im Sport belassen, um die Prävention zu forcieren und um die sozialen Kontakte zu ermöglichen." Wenn das nicht geschehe, drohe durch die Inaktivität und deren Spätfolgen ein Verlust für die Gesellschaft, der sich "spätestens bis 2030 in Diabetes-Zahlen" niederschlage. "Wenn wir dagegen heute nicht sportlich aktiv mit Bewegung angehen, wird das ein großes Problem."