Sierens China: Der Gleichmacher
25. Oktober 2017Der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei, Chinas wichtigstes politisches Großereignis in diesem Jahr, ist zu Ende. Chinas "starker Mann" Xi Jinping ist stärker denn je. Antikorruptionschef Wang Qishan ist nicht mehr im weiterhin siebenköpfigen Ständigen Ausschuss des Politbüros, der nun fünf neue Mitglieder hat. Ein möglicher Nachfolger von Xi Jinping ist nicht in Sicht. Premier Li Keqiang bleibt im Amt.
In seiner Abschlussrede sprach Xi von einer "neuen Reise beim Aufbau des Sozialismus chinesischer Prägung". Xi will China in eine goldene Ära führen. Bereits in seiner Eröffnungsrede hatte der 64-Jährige knapp dreieinhalb Stunden seine Vision für die Zukunft Chinas ausgewalzt, garniert mit marxistischen Schachtelsätzen und steifer KP-Terminologie.
Ein neuer "Hauptwiderspruch"
Dabei kam Xi auch auf den "sozialistischen Hauptwiderspruch" zu sprechen, den der Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping Ende der 1970er-Jahre an die Stelle des maoistischen "Klassenkampfes" setzte. Die Theorie, die fast jedem Chinesen seit Schulzeiten geläufig ist, bezeichnet ein Grundproblem, das in China jahrelang oberste Priorität hatte: die Kluft "zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der zu geringen Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte" zu überwinden. Sollte heißen: Chinas Wirtschaft müsse ausgebaut werden, damit das Land endlich zu den wohlhabenden Nationen der Welt aufschließt.
Deng Xiaopings Theorien galten als so elementar, dass sie nach seinem Tod 1997 in die Verfassung der Kommunistischen Partei Chinas aufgenommen wurden. Als ambitioniertester und mächtigster Führer seit Deng hat Xi nun auf dessen Kerngedanken Bezug nehmend einen neuen "Hauptwiderspruch" formuliert: Es gelte in Zukunft vor allem die Kluft "zwischen den ständig wachsenden Bedürfnissen des Volkes nach einem besseren Leben und einer unausgewogenen und unangemessenen Entwicklung" zu überwinden, sagte er. Was für in marxistischer Dialektik ungeübte Ohren einigermaßen kryptisch klingt, bedeutet ungefähr: der in den vergangenen 30 Jahren erlangte Wohlstand müsse in Zukunft gerechter verteilt und nachhaltiger bewahrt werden. Mehr Chancengleichheit und mehr Umweltbewusstsein statt Wachstum um jeden Preis also. In den Ohren vieler Chinesen klingt das wie Musik. Jetzt allerdings muss Xi auch liefern. Um den Druck, der auf ihm lastet, ist er nicht zu beneiden.
Das große soziale Gefälle bleibt
Im bevölkerungsreichsten Land der Erde ist das Gefälle zwischen Arm und Reich nach wie vor ein großes Problem. Mehr als anderthalb Millionen Chinesen sind heute Millionäre. Gleichzeitig leben immer noch 43 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze. Tendenz allerdings fallend. Besonders auf dem Land herrscht Mangel. Millionen von Wanderarbeitern ziehen jedes Jahr durch China, um in Fabriken und auf Großstadtbaustellen für wenig Geld den Reichtum Chinas zu mehren. Zuletzt wurden aufgrund von Überkapazitäten und Umweltbedenken viele Stahl- und Kohlefabriken zurückgefahren, wodurch unzählige Fabrikarbeiter ihren Job verloren. Es werden noch mehr werden, denn Peking setzt in vielen Industrien künftig in verstärktem Maße auf Automatisierung. Dabei sind es jedoch nicht nur die Fabrikarbeiter, die Peking auffangen muss. Jährlich drängen um die acht Millionen Universitätsabsolventen auf den Arbeitsmarkt. Deren Job- und Verdienstaussichten sind heute nicht mehr annähernd so rosig wie noch vor ein paar Jahren.
Dass Peking bereits historische Erfolge erreicht hat, um Armut und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, lässt sich nicht bestreiten. Seit 1978 stieg das Bruttoinlandsprodukt der Volksrepublik pro Kopf von 156 auf über 8000 US-Dollar, und das obwohl die Bevölkerung zur gleichen Zeit um fast 400 Millionen Menschen gewachsen ist.
Erstaunlicherweise meldete Chinas Arbeitsministerium erst Anfang der Woche mit 3,95 Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote seit 16 Jahren. Seit 2001 war sie nicht mehr unter die Marke von vier Prozent gefallen. Kann man den Zahlen trauen, dann hat die Regierung ihr Soll für dieses Jahr erfüllt. Peking hatte sich für 2017 vorgenommen, elf Millionen neue Jobs zu schaffen und eine Arbeitslosenquote unter der Marke von 4,5 Prozent zu erreichen. In den ersten neun Monaten des Jahres sind bereits 10,97 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden, 300.000 mehr als im Vorjahr.
Stabilität als oberstes Ziel
Insgesamt sollen in Zukunft jährlich 15 Millionen neue Stellen entstehen, sagt Arbeitsminister Yin Weimin. Die Regierung investiert kräftig in zeitgenössische Schlüsseltechnologien wie Elektromobilität, Raumfahrt, Flugzeugindustrie und Digitaltechnik. Chinas industriell geprägte Wirtschaft soll in den nächsten Jahren zur Dienstleistungsgesellschaft umgebaut werden. Nicht mehr billige Fabrikarbeiter, sondern die kaufkräftige urbane Mittelschicht soll dann das Wirtschaftswachstum des Landes tragen und es langfristig stabiler machen. Stabilität ist eines der höchsten Ziele der chinesischen Regierung. Kaum etwas fürchtet sie so sehr wie soziale Unruhen, die ihren Ursprung oft in Armut und sozialer Ungleichheit haben.
Viel Macht bedeutet für Xi auch hohe Erwartungen. Bis 2020 soll die schlimmste Armut in China quasi eliminiert und bald darauf der Traum "einer gemäßigt wohlhabenden Gesellschaft" erreicht werden. Das bedeutet aber auch, dass Peking bis auf weiteres Kontrolle und Vorsicht walten lassen wird, statt die Geschicke den Kräften des freien Marktes zu überlassen. Aus chinesischer Sicht ließe sich das in einer inneren, ja geradezu edlen Logik auch so formulieren: Bevor westlichen Unternehmen die gleichen Chancen auf dem chinesischen Markt eingeräumt werden, müssen erst einmal alle Chinesen untereinander die gleichen Chancen erhalten, zu Wohlstand zu gelangen.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.