Serbien: Studierende mobilisieren für Riesendemo in Novi Sad
30. Januar 2025Die Universität von Belgrad kommt nicht zur Ruhe: Noch unter dem Eindruck der 24-stündigen Blockade der Autokomanda, einer der größten Straßen der Hauptstadt Serbiens, starten die dortigen Studierenden bereits zu einer neuen Aktion - einem 80 Kilometer langen Fußmarsch nach Novi Sad.
Zusammen mit Studentinnen und Studenten der dortigen Uni wollen die Belgrader an einer großen Protestkundgebung zum Gedenken des Einsturzes des Vordachs am Bahnhof der nordserbischen Stadt teilnehmen, bei dem vor genau drei Monaten, am 1. November 2024 um 11:52 Uhr, 15 Menschen ums Leben kamen.
Mindestens 400 Studierende nehmen an dem zweitägigen Marsch teil. Einer von ihnen ist Petar Gardovic von der Fakultät für Politikwissenschaften. Angst habe er keine, sagt der junge Mann der DW. Er ist überzeugt, dass es keine allzu große Anstrengung sei, zwei Mal 40 Kilometer zu laufen, wenn man ein großes Ziel vor Augen habe.
"Alles, was wir fordern, ist, was in einem normalen Staat selbstverständlich sein sollte: Dass jeder, der prügelt, zur Rechenschaft gezogen wird. Und jeder der tötet. Dass die Verantwortlichen klar benannt werden und jeder die Konsequenzen seiner Taten oder Verfehlungen tragen muss", erklärt Gardovic.
Die Kolonne der Studenten wird von Fahrzeugen begleitet, deren Fahrer die Teilnehmenden mit Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten versorgen. Der Plan ist: Tagsüber marschieren - und die Nacht unter freiem Himmel im Fußballstadion der Kleinstadt Indjija verbringen, die auf halber Strecke nach Novi Sad liegt.
Prügel und Rücktritte
Anfang dieser Woche hatten hochrangige Vertreter der Regierung Serbiens auf einer Pressekonferenz erklärt, man sei allen Forderungen der Studenten nachgekommen - und habe die Bürger dazu aufgerufen, Spannungen zu verringern. Doch nur wenige Stunden nach diesem Aufruf wurden Studierende, die Aufkleber mit Aufforderungen zu weiteren Protesten verteilten, von einer Gruppe junger Männer verprügelt, die aus dem Gebäude der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) kamen.
Nach diesem Vorfall traten Premierminister Milos Vucevicsowie der Bürgermeister von Novi Sad, Milan Djuric, zurück. Staatspräsident Aleksandar Vucic kündigte an, in den kommenden zehn Tagen werde die Entscheidung fallen, ob seine Regierungskoalition einen neuen Regierungschef vorschlagen werde - oder ob Neuwahlen zum Parlament abgehalten würden.
Forderungen nicht erfüllt
"Der Staat ist tolerant und geduldig - aber das bedeutet nicht, dass es jetzt möglich ist, das Leben anderer Menschen zu zerstören", erklärte der serbische Präsident. Denn die Hauptaufgabe des Staates besteht darin, gesellschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten. "Mit Gewalt kann nichts erzwungen werden", so Vucic weiter. "Oder vielleicht doch, aber davor muss jemand ein Verbrechen begehen. Sie müssen mich töten, anders werde ich das nicht akzeptieren."
Auf die Studierenden haben die Worte des Präsidenten offenbar keinerlei Wirkung. Für Samstag (1.02.2025) habe die Protestierenden eine 24-stündige Blockade aller drei Brücken von Novi Sad ankündigt. Studierende aus allen Teilen Serbiens werden erwartet, zudem Professoren sowie Lehrer und Grund- und Oberschüler der Schulen, die in den vergangenen Tagen den Unterricht ausgesetzt hatten, um die Forderungen der Studenten zu unterstützen. In Novi Sad eingetroffen sind bereits Landwirte mit Traktoren und ganze Gruppen von Motorradfahrern. Derweil laden serbische Prominente über die sozialen Medien Bürgerinnen und Bürger ein, sich dem Protest anzuschließen.
Ausweg Neuwahlen?
Serbien steckt ganz offensichtlich in einer tiefen politischen Krise. Sind Neuwahlen ein Ausweg? Der oppositionelle Teil der Bevölkerung wird die Proteste erst einstellen, wenn die Forderungen der Studierenden erfüllt und die Voraussetzungen für freie und faire Wahlen gewährleistet sind.
Das Zentrum für Forschung, Transparenz und Rechenschaftspflicht (CRTA), eine NGO zur Unterstützung der Entwicklung von demokratischer Kultur und bürgerschaftlichem Aktivismus in Serbien, beobachtet seit Jahren Wahlprozesse in dem Westbalkanland. "Serbien muss zahlreiche Unregelmäßigkeiten und systemische Probleme lösen, um überhaupt die Voraussetzungen für faire Wahlen zu schaffen", erklärt CRTA-Programmdirektor Rasa Nedeljkov im Gespräch mit der DW. Doch daran seien die Machthaber gar nicht interessiert.
"Wir haben eine ganze Reihe von Strafanzeigen gestellt - die dann in irgendwelchen Schubladen liegen geblieben sind", so Nedeljkov. Dabei gehe es um Stimmenkauf, Druck auf Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und Kriminalität im Zusammenhang mit der Registrierung von Wählern. "Zunächst einmal müssen wir dafür sorgen, dass die Institutionen des serbischen Staates bereit sind, dass Staatsanwaltschaft und Justiz bereit sind, das Gesetz durchzusetzen und so allen am Wahlprozess beteiligten Akteuren eine klare Botschaft zu übermitteln, dass Verstöße gegen das Gesetz nicht toleriert werden."
Die Mindestvoraussetzungen, die der Staat für freie Wahlen gewährleisten müsse, seien die Medienfreiheit, gleiche Chancen für alle im Wahlkampf und ein aktualisiertes Wählerverzeichnis, so Nedeljkov weiter. Wie lange es dauern werde, bis Serbien derart reformiert sei, sei schwer abzuschätzen.
Boykott der Opposition wahrscheinlich
Die meisten Oppositionsparteien haben daher bereits erklärt, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht an Wahlen teilnehmen würden. Sie verlangen, dass die Forderungen der Studenten erfüllt werden und außerdem die Bildung einer Übergangsregierung, zu deren Mandat die Vorbereitung freier Wahlen gehören soll.
"Wir werden Aleksandar Vucics Manipulationen und kosmetischen Maßnahmen nicht zustimmen", so der Parlamentsabgeordnete der Partei Grün-Linke Front Radomir Lazovic gegenüber DW. Die Opposition verlange, "dass eine Übergangsregierung wirklich garantiert, dass sie beginnt, die Serbische Fortschrittspartei zu entmachten."
Die SNS selbst lehnt die Bildung einer solchen Übergangsregierung bisher ab - und es scheint, als würde die internationale Gemeinschaft derzeit auch nicht versuchen, Serbiens Langzeit-Regierungspartei dazu zu zwingen. Die SNS-geführten Behörden des Landes jedenfalls rühmen sich der Unterstützung, die sie sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen zu erhalten meinen. Tatsächlich haben Russland und die USA ihre Unterstützung für Präsident Vucic und seine Regierung klar zum Ausdruck gebracht. Die Europäische Union dagegen, deren Beitrittskandidat Serbien ist, erklärte bisher lediglich, sie "beobachte die gegenwärtigen Entwicklungen in Serbien aufmerksam".
"Als proeuropäische Partei, die die Ansicht vertritt, dass der EU-Beitritt die wichtigste strategische Richtungsentscheidung für Serbien ist, muss ich sagen, dass ich zutiefst enttäuscht und unzufrieden mit den derzeitigen offiziellen Positionen der EU in Serbien", erklärt der Grün-Linke Front-Abgeordnete Lazovic der DW. "Ich fordere die EU auf, ihre Politik der Unterstützung von Aleksandar Vucic zu ändern und an der Seite der Bürger Serbiens zu stehen, die Gerechtigkeit fordern."