Serbien: Haft für Protest nach der Tragödie von Novi Sad
22. November 2024Ein roter Handabdruck mit der Aufschrift "Verbrecher" - das ist das Logo, das Demonstranten in Serbien seit drei Wochen auf Straßen und vor staatlichen Institutionen zeigen. Die prostierenden Bürgerinnen und Bürger fordern, dass Verantwortung übernommen wird für 15 Tote und zwei Schwerverletzte, die der Einsturz des Bahnhofsvordachs von Novi Sad am 1. November gekostet hat.
Das modernistische Gebäude aus dem Jahr 1964 war erst kurz zuvor nach dreijährigen Renovierungsarbeiten wieder eröffnet worden. Die Baumaßnahmen wurden von einer chinesischen Firma durchgeführt. Doch nach Angaben der serbischen Eisenbahngesellschaft war die eingestürzte Überdachung nicht Teil der Renovierungsmaßnahmen. Viele Fragen bleiben offen, etwa die nach den neuen Stahl- und Glaselementen am Vordach. Und vor allem, wer für solche Schlamperei mit Todesfolge verantwortlich ist.
Die Studentin Mila Pajic ist eine der Organisatorinnen der Proteste. Zwischen ihren Vorlesungen an der Universität arbeitet sie unermüdlich an neuen Aktionen - an Blockaden von Brücken und Straßen, an Aufrufen zu Solidarität und zivilem Ungehorsam. Kurz vor einer der Aktion wurden Mila und ihre Freundin Doroteja Antic von der Polizei festgenommen.
"Sechs schwarzgekleidete Männer umringten uns und wiesen uns an, mit ihnen zu gehen", erzählt sie, noch immer unter Schock. "Ich weigerte mich, da sie sich weder vorstellten noch einen Ausweis vorlegten. Aber sie nahmen mich einfach und schleppten mich zu einem schwarzen Jeep, schubsten mich hinein und fuhren los, Richtung unbekannt."
Im Verhör sei sie gefragt worden, wer die Proteste organisiert habe und was sie und ihre Mitstreiter planten. Vier Stunden lang wurden die beiden Frauen vernommen. Während dieser Zeit klapperten Dorotejas und Milas Eltern und Anwälte Polizeistationen ab und suchten nach ihren Töchtern. Erst als sie die beiden jungen Frauen offiziell bei der Polizei als vermisst gemeldet hatten, wurden Mila und Doroteja endlich freigelassen.
"Sowohl die Polizei als auch der serbische Geheimdienst BIA haben uns bestätigt, dass sich unsere Namen in keinem ihrer Systeme befinden", sagt Mila Pajic der DW. "Sie stehen auch in keinem Protokoll, es gab keine Aufzeichnungen über das Gespräch." Wer also hat die beiden jungen Frauen verhört und eingeschüchtert?
Anzahl der Verhafteten unbekannt
In den drei Wochen seit dem Unglück in der zweitgrößten Stadt Serbiens wurden im ganzen Land Dutzende Menschen nach demselben Muster festgenommen - darunter Oppositionspolitiker, Aktivisten und Studenten. Auf Fragen der DW nach der genauen Zahl der Festgenommenen und den ihnen zur Last gelegten Straftaten antwortete die serbische Polizei bis heute nicht. Öffentlich bekannt ist, dass sich mindestens 15 von ihnen noch in Haft befinden.
Viel Aufmerksamkeit und Solidarität erfährt der Kunststudent Relja Stojanovic. Er hatte während einer Protestveranstaltung versucht, seine Freundin gegen einen unbekannten Angreifer zu verteidigen - doch dann stellte sich heraus, dass es sich bei dem Angreifer um einen Polizisten in Zivil handelte. Stojanovic wurde nun wegen tätlichen Angriffs auf einen Beamten angeklagt.
Aus Solidarität mit Stojanovic schlossen sich Schauspielerinnen und Schauspieler in Novi Sad dem Protest an. Mittlerweile ist es in den Theatern der 300.000-Einwohner-Stadt zum regelmäßigen Ritual geworden, dass sich die Schauspieler vor der Aufführung an das Publikum wenden und fordern, dass politische Verantwortung für die Tragödie am Bahnhof übernommen wird und alle verhafteten Bürger, die dafür demonstriert haben, freigelassen werden.
Demonstranten im Gefängnis, Hooligans auf freiem Fuß
Alle Festnahmen fanden nach Protesten statt, bei denen maskierte Männer Steine und brennende Fackeln auf das Rathaus warfen. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic nannte die Demonstranten in Serbiens zweitgrößter Stadt deshalb "Schläger" und warf ihnen vor, das Westbalkan-Land "zu terrorisieren".
"Was uns als anständigen Bürgern unabhängig von unserer politischen Ausrichtung bleibt, ist der Arbeit staatlicher Stellen zu vertrauen und keine Maßnahmen zu ergreifen, um auf der Straße zu zeigen, wer zahlreicher und stärker ist", so Vucic auf seinem Instagram-Konto.
Die Opposition bestreitet jedoch, dass die Festgenommenen an Ausschreitungen beteiligt waren. Sie legte Beweise dafür vor, dass die Unruhen bei den Protesten von Gruppen der regierenden Serbischen Fortschrittspartei SNS verursacht wurden - der Partei des Präsidenten. "Einen von ihnen haben wir dank Leuten identifiziert, die ihn persönlich kennen, aber wir haben auch Korrespondenz erhalten, aus der hervorgeht, dass es sich um von der SNS organisierte Gruppen handelte", sagte die Oppositions-Abgeordnete Marinika Tepic der DW.
"Später haben wir zwei weitere an ihren Uniformen erkannt. 'Serbisch-Sparta' ist der Name ihrer Gruppe. Sie sind meist zum Verprügeln von Kritikern der Regierung im Einsatz", so Tepic weiter. Keine dieser Personen sei bisher festgenommen worden, obwohl es Videos gebe, anhand derer die Staatsanwaltschaft sie identifizieren könne.
Die Demonstranten bezeichnen die Inhaftierten daher als politische Gefangene. Tag für Tag blockieren sie das Gebäude, in dem die Staatsanwälte und Richter von Novi Sad sitzen. Sie fordern, dass die Justizbehörden nach dem Gesetz und nicht nach "Parteianweisungen" arbeiten. Als die Polizei am Donnerstag (21.11.2024) einschritt, um den Protest aufzulösen, wurde die Situation zeitweise chaotisch. Demonstranten entwanden einem Polizisten sein Schutzschild, einem anderen fiel seine Dienstwaffe auf den Boden.
Der mitdemonstrierende Oppositions-Abgeordnete Pavle Grbovic sagte, die Polizei habe Gewalt angewendet, obwohl die Blockade friedlich verlaufen sei. "Sie griffen wahllos Abgeordnete und normale Bürger an, drängten uns zusammen. Wir leisteten Widerstand", sagte Grbovic der DW.
Bisher konnten weder Polizeiprügel noch Verhaftungen die Proteste in Serbien stoppen. Mila Pajic und ihre Freunde wollen ihre Aktionen fortsetzen: "Uns bleibt nur noch die Straße und dieser Kampf, und ich kann Ihnen sagen, dass wir keine Angst haben werden", so Pajic.