Serbien: Premier Vucevic geht, doch die Proteste halten an
28. Januar 2025Unter dem Druck der seit Monaten anhaltenden Proteste ist der serbische Premierminister Milos Vucevic am Dienstag (28.01.2025) zurückgetreten. Er ist Mitglied der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) und ein enger Vertrauter von Präsident Aleksandar Vucic.
Auch der Bürgermeisters von Novi Sad, der zweitgrößten Stadt des Landes, ist inzwischen zurückgetreten. Er gehört ebenfalls der SNS an. "Ich denke, dass wir damit unsere Verantwortung zum Ausdruck bringen als diejenigen, die in Positionen gewählt wurden, um Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Situation nicht auf die Straße übergreift und zu Streitigkeiten zwischen den Bürgern und zu Spaltungen in der Gesellschaft führt", sagte Vucevic auf einer Pressekonferenz in Belgrad.
In der Nacht zuvor hatten Nachrichten aus Novi Sad die serbische Öffentlichkeit erschüttert. Dort hatten Studentinnen und Studenten vor dem örtlichen SNS-Büro Aufkleber mit einem Aufruf zu neuen Protesten angebracht, als sie von Männern mit Schlagstöcken angegriffen wurden, die aus dem Parteibüro herausstürmten.
Laut Medienberichten wurden die Studierenden brutal verprügelt, eine junge Frau wurde mit einem Kieferbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Das geschah nur wenige Stunden, nachdem Vucevic und der alleinherrschende Präsident Vucic zum Dialog aufgerufen und behauptet hatten, alle Forderungen der Studenten erfüllt zu haben.
Ein Unglück mit Ansage
Die Proteste waren im November 2024 ausgebrochen, als das Vordach des Bahnhofs in Novi Sad eingestürzt war. Dabei waren fünfzehn Menschen ums Leben gekommen. Seither sehen immer mehr Bürger die Schuld für das Unglück in der in Serbien allgegenwärtigen Korruption, die für Bausünden verantwortlich gemacht wird.
Die Studierenden fordern die Veröffentlichung aller Dokumente zur kurz vor der Katastrophe abgeschlossenen Renovierung des Bahnhofs sowie die Verhaftung der Verantwortlichen. Der Protest richtet sich aber auch gegen Vucic selbst, der als Kopf des Klientelsystems gesehen wird, das Serbien beherrscht.
Die ersten Reaktionen zeigen, dass auch der Rücktritt des Premierministers die Proteste nicht beruhigen kann. "Die Rücktritte kommen mindestens drei Monate zu spät", sagt Pavle Grbovic, der Vorsitzende der liberalen Oppositionspartei Bewegung freier Bürger (PSG) der DW. "Die Spannungen und die Gewalt hätten geringer sein können, wenn diese Leute rechtzeitig moralisch gehandelt hätten. Jetzt scheint es, als wollten sie nur den politischen Schaden für die Umfragewerte der SNS begrenzen, der offensichtlich ist."
Es ist noch unklar, ob die Regierung versuchen wird, in der aufgeheizten Atmosphäre Neuwahlen auszurufen - die die Opposition wahrscheinlich boykottieren würde. Wahrscheinlicher ist, dass ein neuer Premierminister berufen werden wird.
Der Präsident in der Klemme
Die Proteste haben bislang Universitäten, Schulen, die Anwaltschaft und Kultureinrichtungen erfasst und teils hunderttausende Menschen gleichzeitig auf die Straßen getrieben. In Belgrad hatten die Demonstrierenden 24 Stunden lang die Autokomanda, eine der Hauptverkehrsadern der Hauptstadt blockiert und damit den Verkehr zum Erliegen gebracht.
"Wir sind hier, um Solidarität und Edelmut zu zeigen", sagte dabei der Student Lazar Ristanovic der DW - während hinter ihm Zelte auf dem Asphalt errichtet wurden, in denen die Protestierenden die Nacht verbringen wollten. "Es werden jeden Tag mehr von uns. Sie können diese Menge nicht aufhalten, und wir hören nicht auf, bis unsere Forderungen erfüllt sind."
Seit über einem Jahrzehnt regiert Vucic das Westbalkanland mit eiserner Faust, bisher konnten ihm Proteste nie etwas anhaben. Doch diesmal scheint es anders zu sein.
Vucic, ein Machtstratege mit geschickten Verbindungen sowohl in den Westen als auch nach Russland und China, konterte die Forderungen der Protestbewegung bisher mit täglichen, oft hitzigen Auftritten in regierungstreuen Fernsehsendern.
Am Montagabend (27.01.2025) jedoch zeigte er sich ungewöhnlich ruhig und gesprächsbereit. Alle Forderungen der Studierenden würden erfüllt, die Regierung veröffentliche gerade die letzten von Zehntausenden Seiten von Dokumenten.
"Die aktuelle Lage bedroht unser Wirtschaftswachstum", sagte Vucic in der Ansprache, die auf zahlreichen nationalen und lokalen Sendern übertragen wurde. "Wir müssen weiterarbeiten, das Land muss funktionieren."
Am nächsten Tag wiederholte Premier Vucevic in seiner Rücktrittsrede das, was der Präsident schon zuvor oft gesagt hatte - dass die Proteste vom "Ausland" orchestriert seien und das Ziel hätten, die Einheit Serbiens zu zerstören.
Angriffe auf Demonstrierende
Serbiens Boulevardmedien, die der Regierung nahestehen, bezeichnen die Studierenden und Protestierenden täglich als ausländische Söldner, Gewalttäter und Staatsfeinde. Mehrfach griffen mit der SNS in Verbindung gebrachte Hooligans friedliche Demonstrationen an. In getrennten Vorfällen wurden zwei Studentinnen schwer verletzt, als Autos absichtlich in die Blockaden der Demonstrierenden rasten.
Die Fahrer wurden zwar verhaftet und wegen versuchten Mordes angeklagt, doch die Stimmung bleibt aufgeheizt. "Bei manchen Menschen hat sich bereits das Bild der Studierenden als Staatsfeinde verfestigt", sagt der Politologe Viktor Stamenkovic der DW. Er glaubt jedoch, dass das aggressive Verhalten der Regierung bei vielen unentschlossenen Wählern Sympathien für die Studierenden wecken könnte.
Kein Ende der Proteste in Serbien in Sicht
Laut einer Umfrage des unabhängigen Zentrums für Forschung, Transparenz und Rechenschaftspflicht (CRTA), das sich der Entwicklung einer demokratischen Kultur und bürgerschaftlichen Aktivismus in Serbien verschrieben hat, unterstützen 61 Prozent der Bürger Serbiens die Blockaden und Proteste; nur ein Drittel glaubt, dass sie das Werk in- und ausländischer "Feinde" sind.
Das ist ein Schlag ins Gesicht für Vucic, dessen Herrschaftsmethode auf Propaganda, der Vergabe von Jobs im öffentlichen Sektor an Parteimitglieder und -anhänger sowie auf der Kontrolle über Justiz und Polizei beruht.
Im Kampf zwischen einem mächtigen System und einer Volksbewegung distanzieren sich die Studierenden bisher ausdrücklich von den etablierten serbischen Oppositionsparteien und dem NGO-Sektor im Land.
Die entscheidende Frage bleibt jedoch, ob die Proteste, die basisdemokratisch und ohne zentrale Führung organisiert werden, die Regierung tatsächlich zum Rücktritt zwingen können - was für viele Regierungsmitglieder, so Kritiker, den Weg ins Gefängnis bedeuten könnte.
Serbiens Präsident Vucic bleibt bislang fest im Sattel
Vucic genießt weiterhin viel Unterstützung aus dem Ausland. Er pflegt die traditionell guten Beziehungen Serbiens zu China und Russland, hat aber auch im Westen Pluspunkte gesammelt, etwa durch den Export serbischer Waffen und Munition in die Ukraine.
Mit der Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz unterzeichnete Vucic 2024 ein Abkommen über die Lieferung von serbischem Lithium, obwohl das Projekt seit Jahren von Umweltprotesten blockiert wird.
Die ersten Reaktionen auf den Rücktritt des Premierministers und Vucics neueste Rede zeigen, dass weder die Studierenden noch die Opposition ihm sein "Gesprächsangebot" abkaufen. Das Spiel scheint in die nächste Runde zu gehen.
Mitarbeit: Iva Manojlović (Belgrad)