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Russland: Vom Häftling zum "Helden"

Irina Chevtayeva
13. Juli 2023

Wiedersehen mit dem Straftäter: In Russland kehren Gefangene, die für den Kampf in der Ukraine aus der Haft entlassen wurden, in ihre Heimatorte zurück. Betroffene und Experten sehen dies mit Sorge.

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Ukraine Bachmut | Soldat der Wagner Gruppe
Kämpfer mit krimineller Vergangenheit? Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine wurden etwa 50.000 Häftlinge aus Gefängnissen für Jewgenij Prigoschins Wagner-Gruppe und weitere 15.000 vom Verteidigungsministerium rekrutiertBild: Valentin Sprinchak/TASS/IMAGO

"Es ist, als wäre ich in der Hölle", sagt Oksana Pechtelewa. Die Mutter der 23-jährigen Vera Pechtelewa aus Kemerowo, die im Januar 2020 von ihrem Ex-Freund Wladislaw Kanjus brutal getötet wurde, ist traumatisiert. Der Täter hatte ihrer Tochter mehr als hundert Verletzungen zugefügt. Die Polizisten, die stundenlang auf sich warten ließen, nachdem Veras Nachbarn die Wache angerufen hatten, erhielten Bewährungsstrafen. Der Täter selbst wurde zu 17 Jahren Haft verurteilt.

"In Kemerowo ignorierten die Polizeibeamten sieben Anrufe bei der Notrufnummer 112", heißt es in dem Tweet des russischen Bloggers André Filippov65. Die Nachbarn hätten schließlich die Tür mit einem Brecheisen aufgebrochen, bevor die Polizei eingetroffen sei. "Vera Pekhteleva, 23, lag in einer Blutlache, und Vladislav Kanyus, ihr ehemaliger Liebhaber, stand bis zum Ellbogen in Blut über ihr", heißt es in dem Tweet weiter.

Veras Familie hatte eine härtere Strafe gefordert. Ihre Mutter wirft dem Gericht vor, es habe nicht den Tatbestand der Vergewaltigung und Freiheitsberaubung berücksichtigt, ebenso wenig wie die Tatsache, dass der Mörder mit einem Messer auf sein Opfer eingestochen hatte.

Die Familie reichte eine Kassationsbeschwerde ein, die jedoch nie vor Gericht gelangte. Es hieß, der Gefangene könne nicht ausfindig gemacht werden. Später entdeckten Veras Angehörige Fotos in sozialen Netzwerken, die Wladislaw Kanjus in Militäruniform und mit Waffe zeigen. Sie vermuten, dass er auf freiem Fuß ist und in der Ukraine kämpft.

"Es ist ein Albtraum"

 

Portrait von Psychologin Jekaterina Isupowa
Jekaterina Isupowa lenkt die Aufmerksamkeit auf die Nöte der Opfer

Die russische Psychologin Jekaterina Isupowa unterstreicht, dass die Angehörigen der Opfer meist unter posttraumatischen Störungen litten, wenn sie um einen geliebten Menschen trauern oder ihnen selbst körperliche Gewalt angedroht wurde. "Sie reagieren mit großer Angst, Hilflosigkeit und Entsetzen. Wenn Täter ins Gefängnis kommen, empfinden Opfer eine gewisse Erleichterung und hoffen, dass der Schrecken ein Ende nimmt. Aber wenn sie erfahren, dass ihr Täter zurückkehrt und möglicherweise wieder unter Menschen ist, dann entsteht Angst", so Isupowa. Diese Hilflosigkeit sei eine große Ungerechtigkeit.

Und genau so empfindet Oksana Pechtelewa. Sie berichtet von "Angst, Schmerz und Unverständnis - es ist einfach ein Albtraum". Zudem fürchtet sie um ihre Sicherheit und will dem Mörder ihrer Tochter Vera nach seinem möglichen Einsatz an der Front nicht irgendwo in der Ukraine begegnen.

Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine wurden etwa 50.000 Häftlinge aus Gefängnissen für Jewgenij Prigoschins Wagner-Gruppe und weitere 15.000 vom Verteidigungsministerium rekrutiert. Das berichtet die Leiterin der Stiftung "Sitzendes Russland", Olga Romanowa, die sich in Deutschland im Exil aufhält.

"Vermutlich sind vor allem Schwerverbrecher in den Krieg gezogen, die zehn oder mehr Jahre hätten absitzen müssen", erläutert eine Anwältin aus Russland, die nicht genannt werden möchte. "Es gibt keine Statistiken, aber diejenigen, die schon fünf oder sechs Jahre hinter Gittern saßen, setzen eher darauf, auf Bewährung entlassen zu werden, und werden wahrscheinlich nicht ihr Leben riskieren", glaubt die Expertin.

Portrait von Menschenrechtlerin  Aljona Popowa
Menschenrechtlerin Aljona Popowa wurde in Russland als "ausländische Agentin" eingestuftBild: DW

Aljona Popowa ist für ihre Kampagne gegen häusliche Gewalt in Russland bekannt und vom russischen Justizministerium auf die Liste der ausländischen Agenten gesetzt worden. Sie betont, es sei unbekannt, wie viele wegen Mordes Verurteilte aus dem Gefängnis entlassen worden seien, um in der Ukraine zu kämpfen. "Mörder werden auf freien Fuß gesetzt, sie müssen ihre Strafe nicht bis zum Ende ertragen, sondern dürfen noch mehr töten", so die russische Menschenrechtlerin.

Vom Killer zum "echten Helden"

Im Januar traf sich der Chef der Wagner-Söldner, Jewgenij Prigoschin, mit einer Gruppe von Gefangenen. Sie durften nach sechs Monaten Einsatz in der Ukraine nach Hause und bekamen alle Strafen erlassen.

Unter ihnen waren auch zwei wegen Mordes verurteilte Männer. Einer von ihnen ist Pawel Sacharow aus Karelien. 2015 war er wegen brutaler Ermordung einer Rentnerin zu elf Jahren Haft verurteilt worden, doch im Januar 2023 kehrte er nach Hause zurück. Laut Medienberichten war er einer der ersten, die der russische Präsident Wladimir Putin per Geheimerlass begnadigte. Zusammen mit ihm wurde vermutlich auch Denis Kinjew aus der Region Leningrad begnadigt, der 2011 wegen Raubes und Mordes zu 17 Jahren Haft verurteilt worden war.

Doch nicht alle Häftlinge kehren lebendig aus dem Krieg nach Hause zurück. Im November 2019 wurde Eduard Jar aus dem Dorf Karaul in der Region Krasnojarsk wegen Mordes an einer Frau zu acht Jahren Haft verurteilt. Er hatte betrunken mit einer Schaufel dreimal auf sie eingeschlagen, viermal mit einem Messer zugestochen und dreimal mit dem Fuß ins Gesicht und auf den Oberkörper getreten. Wie aus seinen Aussagen hervorgeht, verließ er danach ihre Wohnung, warf das Messer weg und ging nach Hause.

Im November 2022 trat Jar der Wagner-Gruppe bei. Im Februar 2023 starb er in der Nähe der umkämpften ukrainischen Stadt Bachmut. Die Behörden seines Heimatdorfes schrieben daraufhin in einem Nachruf: "Er zog los, um gegen Neonazis zu kämpfen, und wurde so für alle Einwohner unserer Region zu einem echten Helden und wahren Patrioten."

"Privatarmeen sind eine illegale Sache"

Die Menschenrechtlerin Olga Romanowa weist darauf hin, dass es in Russland kein Gesetz gibt, das Söldnertum und Privatarmeen erlaubt. "Deshalb sind diese 50.000 Wagner-Söldner eine absolut illegale Sache, ebenso wie ihre Begnadigung, da ein Verbrechen noch von einem weiteren Verbrechen überlagert wird", erläutert sie. Außerdem sei es nicht vertretbar, dass der Staat Angehörige von Privatarmeen als "Freiwillige" bezeichne und schütze. So sehe das Gesetz zur "Diskreditierung von Freiwilligen" bis zu 15 Jahre Gefängnis vor.

Portrait der Menschenrechtlerin Olga Romanowa
Menschenrechtlerin Olga Romanowa musste Russland verlassen und ins Exil gehenBild: DW

Doch ehemalige Gefangene sind nicht nur in russischen Privatarmeen zu finden. Seit dem 1. Februar können in Russland Häftlinge, die ihre Strafe noch nicht abgesessen haben, auch in den Vertragsdienst der Armee übernommen werden. Und Ende Juni unterzeichnete der russische Präsident das Gesetz "Über die Besonderheiten der strafrechtlichen Haftung von Personen, die an der Speziellen Militäroperation beteiligt sind". Als solche wird in Russland der Krieg gegen die Ukraine bezeichnet.

Bei dem Gesetz geht es um die Einberufung von Personen, die unter Verdacht stehen oder angeklagt sind, und denen eine Freiheitsstrafe von höchstens fünf Jahren droht. Laut Menschenrechtlerin Olga Romanowa werden auf diese Weise Menschen, denen wegen geringfügiger und mittlerer Verbrechen eine Strafe droht, für den Krieg mobilisiert. "Eine Person wird verhaftet, ein Strafverfahren wird eröffnet, und danach stimmt die Person zu, in den Krieg zu ziehen, und dann wird das Strafverfahren eingestellt." 

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk