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Otto Küsel - der Dieb, der in Auschwitz Leben rettete

25. Januar 2025

In der Hölle von Auschwitz hatte Otto Küsel als "Berufsverbrecher" einen privilegierten Häftlingsstatus. Er nutzte ihn, um anderen zu helfen. Dies ist die Geschichte eines Mannes, der nie vorhatte, ein Held zu werden.

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Häftlingsfoto von Otto Küsel in Auschwitz von vorne und von der Seite, deutlich zu sehen der grüne Winkel , die Häftlingsnummer 2
Jeder Häftling bekam in Auschwitz eine Nummer. Otto Küsel war Nr. 2Bild: Staatliches Museums Auschwitz-Birkenau. Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau in Oświęcim

Er war kein adliger Offizier wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der ein Attentat auf Hitler verübte. Er war auch kein Großindustrieller wie Oskar Schindler, der Jüdinnen und Juden als unabkömmliche Arbeitskräfte in seine Fabrik holte. Otto Küsel war ein verurteilter Dieb, der sich im mörderischen Nazi-System eines Konzentrationslagers die Menschlichkeit bewahrte und Hunderte von Mithäftlingen vor dem sicheren Tod rettete. Er war der "Auschwitzhäftling Nr. 2".

Buchcover Sebastian Christ Auschwitz-Häftling Nr. 2
Mehr als 20 Jahre recherchierte Sebastian Christ für das Buch

In Deutschland kennt ihn fast niemand, doch jetzt hat der Autor und Journalist Sebastian Christ ihm in seinem gleichnamigen Buch ein Denkmal gesetzt. Auch er wurde nur durch Zufall auf ihn aufmerksam, als er 2003 mit Kazimierz Smoleń, dem damaligen Leiter des staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, ins Gespräch kam. Der Pole war selbst jahrelang im Lager und hatte Otto Küsel dort kennengelernt. Man müsse unbedingt die Geschichte dieses guten Mannes erzählen, gab er Christ mit auf den Weg. Kein einfaches Unterfangen, denn es gab kaum Unterlagen. Fast 22 Jahre lang hat er recherchiert, durch Zufall stieß er auf einem Flohmarkt auf ein Buch mit dem einzigen Interview, das Küsel je gegeben hat - einer Studentengemeinde. 

Wer war Otto Küsel? 

Geboren wurde Otto Küsel am 16. Mai 1909 im Großraum Berlin. Mit 14 brach er seine Elektriker-Lehre ab, denn er wollte lieber sein eigener Herr sein, als den Befehlen eines Chefs zu folgen. Küsel zog mit einem Bauchladen von Haus zu Haus und verkaufte Schnürsenkel. Auch Obst hatte er im Angebot, umwarb die Kundinnen mit lockeren Sprüchen: "Bananen, Bananen, für die Damen ohne Herren."

Doch es war nicht leicht, in der Weimarer Republik über die Runden zu kommen - erst recht nicht nach Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929. "Eigentlich lief das alles mehr auf Betteln als auf Hausieren hinaus - man durfte sich von der Polizei nie erwischen lassen", so Küsel. Erwischt wurde er aber doch. Als junger Mann sei er mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten, wahrscheinlich wegen Diebstahls- und Einbruchsdelikten, schreibt Christ. Immer wieder verbrachte er Zeit hinter Gittern. 

"Die können mich mal" 

Jemand wie Küsel passte nicht ins Bild der Nationalsozialisten vom guten "Volksdeutschen". "Er war ein Mensch, der sicherlich Probleme hatte mit Autoritäten und der vielleicht auch so ein bisschen was Anarchisches in sich hatte", so Sebastian Christ gegenüber der DW. "Und jemand, der ein großes Gerechtigkeitsempfinden gehabt und sehr zielsicher erkannt hat, wenn eine Gruppe von Menschen sich über eine andere Gruppe von Menschen erhebt." 

So wie die Nazis, die 1933 an die Regierung kamen. Küsel hielt nicht viel von ihnen. Die folgende Szene, die sich in einer Berliner Amtsstube abspielte, zeigt seine Einstellung zu den neuen Machthabern:

"Ich ging hinein und sagte 'Guten Tag!'. Da sagte der: 'Gehen Sie noch mal raus!'. Ich dachte, der hat noch zu tun und ging hinaus. Nach ein paar Minuten ging ich wieder hinein und sagte 'Guten Tag!'. Da sagte der: 'Gehen Sie noch mal raus!' Da dachte ich, der hat noch zu tun und ging wieder hinaus. Und als ich zum dritten Mal hereinkam und 'Guten Tag' sagte, meinte er: 'Wissen Sie denn nicht, dass das 'Heil Hitler' heißt? Gehen Sie noch einmal hinaus!' Ich bin also wieder herausgegangen, aber dann bin ich weggegangen und habe gedacht, die können mich mal."

Männer in Uniformen zeigen bei einer Parade den Hitler-Gruß
Der Hitler-Gruß - wer ihn verweigerte, war den Nazis suspekt Bild: KHARBINE-TAPABOR/IMAGO

Küsel lehnte das System ab, aber das hatte ihn längst im Visier. Für die Nazis fiel Küsel in die Kategorie "Berufsverbrecher". Wer drei Mal "aus Gewinnsucht" - also wegen Diebstahl - mindestens sechs Monate im Gefängnis gesessen hatte, konnte ohne richterlichen Beschluss in ein KZ gebracht werden - so regelte es das "Gewohnheitsverbrechergesetz". 

Die Sonderrolle der Kapos

1937 lud die Geheime Staatspolizei (Gestapo) Otto Küsel vor. Er wurde verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen vor den Toren Berlins geschickt. Es war der Beginn einer achtjährigen Leidenszeit als Lagerhäftling. Polizeichef Heinrich Himmler schwebte die Vision einer "Volksgemeinschaft ohne Verbrecher" und "Asoziale" vor; zum "Wohl der Gesellschaft" sollten Menschen wie Küsel für immer weggesperrt werden.

Allerdings wurde ihm im KZ eine besondere Rolle zugewiesen. Er wurde Funktionshäftling, auch Kapo genannt. Aus Sicht der Nationalsozialisten waren "Berufsverbrecher" die idealen Kapos, denn anderes als politische Häftlinge, Kommunisten oder Sozialdemokraten traten sie nicht für eine Ideologie ein und unterhielten auch kein Netzwerk. Das machte sie allerdings auch völlig unverdächtig, im Lager heimlich Widerstand gegen das Regime zu leisten. Zu erkennen waren sie an den grünen Dreiecken auf ihrer Kleidung, den Winkeln. Es war ihre Aufgabe, den anderen Häftlingen Arbeitskommandos zuzuweisen. Die Kapos sollten kleine Rädchen im Mordgetriebe des Konzentrationslagers sein und dafür sorgen, dass die Häftlinge an Erschöpfung starben. 

Konzentrationslager Auschwitz: Blick auf ein Gebäude und die Schrift "Arbeit macht frei" über dem Tor
Im Konzentrationslager Auschwitz wurden in den ersten zwei Jahren vor allem Polen inhaftiert Bild: Artur Widak/NurPhoto/picture alliance

Die meisten Kapos füllten ihre privilegierte Rolle in der KZ-Hierarchie ganz im Sinne der Nazis aus. Manche machten sich einen Spaß daraus, Polen in der Fäkaliengrube zu ertränken oder sie zu Tode zu prügeln. Besonders berüchtigt war Bruno Brodniewicz, Häftling Nummer 1. "Brodniewicz war eine Bestie, er wurde 'Der schwarze Tod' (Czarna śmierć) genannt", sagte später ein Überlebender aus.

Heimlicher Widerstand gegen ein unmenschliches System

Otto Küsel war anders. Er kam im Mai 1940 nach Auschwitz, das gerade neu gegründete Lager unter Leitung des berüchtigten Kommandanten Rudolf Höß. In den ersten zwei Jahren wurden hier vor allem nicht-jüdische Polen inhaftiert. Küsel tat alles, um ihnen zu helfen.

Die Schutzstaffel - kurz: SS, das wichtigste Terror- und Unterdrückungsorgan des Nationalsozialismus - hatte es vor allem auf die polnische Elite abgesehen, das wusste er schon aus seiner Zeit in Sachsenhausen. Daher warnte er neue Häftlinge davor, sich als Akademiker oder Offiziere zu erkennen zu geben - das wäre einem Todesurteil gleichgekommen. Geschwächte Männer teilte er zu Arbeitskommandos in der Küche ein, wo sich auch etwas zu essen organisieren ließ. Neuankömmlinge, die noch kräftig waren, schickte er zu Außenkommandos - mit dem Versprechen, sie auf einem anderen Posten zu positionieren, wenn ihre Kräfte schwanden. Küsels Schreibstube wurde zum einem Ort der Hoffnung, wo er Trost spendete und Fluchtwilligen half.

Stacheldrahtzaun und Wachturm in Auschwitz-Birkenau
Die Flucht aus Auschwitz war ein nahezu unmögliches UnterfangenBild: YAY Images/IMAGO

"Im Lagermuseum sind Hunderte von Geschichten überliefert, die zeigen, wie Küsel den Menschen in der Hölle des Lagerlebens eine Perspektive eröffnet hat", sagt Christ. Er habe sogar Polnisch gelernt, um sich besser mit seinen Mithäftlingen verständigen zu können.

Polnisch wurde zu seiner Geheimsprache, die weder die SS noch die anderen Kapos verstanden. Mithäftling Boleslaw Grzyb erinnert sich, dass Küsel einmal durch das Fenster den Rapportführer Gerhard Palitzsch sah und ihm in fließendem Polnisch erklärte: "Schau und erinnere dich an das Gesicht des Verbrechers." Der ehemalige Landwirt Palitzsch war unter anderem zuständig für die tägliche Meldung der Häftlingszahlen und die Vollstreckung der Lagerstrafen. Er pflegte Neuankömmlinge im KZ mit den Worten zu begrüßen. "Vergesst eure Frauen, eure Kinder und eure Familien. Hier werdet ihr verrecken wie Hunde."

Wie hat Küsel es geschafft, seinen heimlichen Widerstand gegen die Nazis zu kaschieren? Nach außen hin schien er sehr arbeitsam, und bei seinen Mit-Kapos hielt er sich im Hintergrund, so Christ. "Er hat sich seine Menschlichkeit in der Zeit im Lager, in der er sehr viel Anlass dazu gehabt hätte, sie aufzugeben, gegen alle Widerstände bewahrt." 

Schwarz-Weiß-Foto von Otto Küsel
Dieses Foto entstand am 29.12.1942 direkt nach Ottos FluchtBild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau

Spektakuläre Flucht aus Auschwitz 

Im Dezember 1942 stand Otto Küsel vor der Wahl, einen Fluchtversuch zu verraten oder sich den Ausbrechern anzuschließen. Er schloss sich den Polen an und organisierte einen Pferdewagen - unter dem Vorwand, einem SS-Mann Schränke außerhalb des Lagers zu besorgen. Klar, das er dazu zwei Häftlinge zum Tragen brauchte. Der Vierte im Bunde, Boleslaw Kuczbara, hatte eine SS-Uniform geklaut und fuhr als angeblicher Bewacher mit. Der Weg in die Freiheit war ein spektakulärer Coup. Draußen wurden die vier Flüchtigen von Widerstandskämpfern versteckt. Am Ende war es eine eifersüchtige Frau, die Küsel bei der Gestapo verriet: Sie war in ihn verliebt; als sie ihn jedoch mit der Tochter der Leute, bei denen er Unterschlupf gefunden hatte, sah, vermutete sie eine Nebenbuhlerin. 

Aquarellzeichnung zeigt vier Männer auf einem Pferdewagen, einer ist als SS-Mann verkleidet und zeigt der Woche der Wache am Tor den Hitler-Gruß
Der polnische Auschwitzüberlebende Jan Komski hielt den Ausbruch später als Aquarell fest. Einer der Häftlinge hatte eine SS-Uniform geklaut und salutierte mit dem Hitler-Gruß.Bild: Staatliches Museums Auschwitz-Birkenau. Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau in Oświęcim

Neun Monate nach seiner spektakulären Flucht landete Küsel wieder in Auschwitz, diesmal im Block 11 - dem Todestrakt. Jeden Tag wartete er auf das Erschießungskommando. Doch das Schicksal wollte es anders. Lagerkommandant Höß wurde abberufen, sein Nachfolger ordnete Amnestie für die Bunkerinsassen an. "Ich kam zurück ins Lager, hatte aber keine Funktion mehr. Viele haben damals angenommen, dass ich sie verraten hätte, weil ich ja noch am Leben war. Aber das hätte es bei mir nicht gegeben, da hätte ich mich eher totschlagen lassen." Ottos Wahrnehmung deckt sich nicht mit den Berichten der Auschwitz-Überlebenden, schreibt Christ. Kein Einziger sah in ihm einen Verräter. 

Als die Sowjetischen Truppen 1944 näher rückten, wurde er als Zwangsarbeiter ins bayerische KZ Flossenbürg verlegt. Er entkam dem Todesmarsch, den die Nazis initiierten, damit die Häftlinge nicht von den heranrückenden Alliierten befreit wurden. 1945 war seine Leidenszeit endlich vorbei. 

Schwarz-Weiß-Foto von 1945: Ein Arzt untersucht ausgemergelte KZ-Häftlinge
Am 27.01.1945 befreiten sowjetische Truppen das Konzentrationslager AuschwitzBild: akg-images/picture alliance

Erst 2020 als Opfer anerkannt 

Nach dem Krieg blieb Otto Küsel in Bayern, er heiratete und bekam zwei Töchter. Seinen Lebensunterhalt verdiente er fortan als Verkaufsfahrer für einen Obst- und Gemüsegroßhändler. 1964 sagte er als einer von 211 Auschwitzüberlebenden im ersten Frankfurter Auschwitzprozess aus: Die Richter hätten ihm nahezu unterstellt, ein Spitzel gewesen zu sein, sagt Christ. "Wahrscheinlich war es ein Schnellschuss, der da gemacht wurde, so nach dem Motto: Der Mann hat so viel überlebt und ist aus den unwahrscheinlichsten Konflikten schadlos rausgegangen. Wahrscheinlich hat er irgendwie Dreck am Stecken - was natürlich völlig unberechtigt war." 

Schwarz-Weiß-Foto von Otto Küsel im Anzug
Otto Küsel um 1960 Bild: Staatliches Museums Auschwitz-Birkenau. Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau in Oświęcim

Privat sprach Otto Küsel fast nie über seine Zeit im KZ. Sebastian Christ findet das nicht verwunderlich, offenbar habe er sich geschämt. Die Nachbarn in dem kleinen Örtchen Schwarzhofen in der Oberpfalz sollten nichts von seiner Vergangenheit als Dieb wissen. "Dieses Stigma des Begriffs 'Berufsverbrecher' - das klebte natürlich auch nach dem Krieg an seiner Biografie", erklärt Christ. Diese sogenannten "Berufsverbrecher" waren lange eine nicht anerkannte Opfergruppe, anders als politische und jüdische Häftlinge. Sie wurden erst 2020 vom Bundestag als Opfergruppe anerkannt.

In Polen ein Held 

Zu ehemaligen polnischen Mithäftlingen hat Küsel aber bis zum Lebensende Kontakt gehalten. In Polen gilt er als Held, dort erhielt er die Staatsbürgerschaft ehrenhalber. Es sei an der Zeit, findet Sebastian Christ, dass er auch in Deutschland bekannt wird. "Ich glaube, dass Ottos Geschichte zeigt, dass wir selbst in den schlimmsten Situationen die Chance haben, Menschlichkeit zu bewahren", sagt er. Und natürlich zeige sie auch, wie Radikalisierungstendenzen in der Gesellschaft laufen. "Wir leben gerade in nicht so einfachen Zeiten. Und die Geschichte zeigt, wie schnell jemand in so einen Strudel hineingeraten kann, aber auf der anderen Seite auch, wieviel Gutes jemand bewirken kann, wenn er an sich selbst und seine eigene Menschlichkeit glaubt."

Lesetipp: Sebastian Christ: Auschwitzhäftling Nr. 2. Otto Küsel - der unbekannte Held des  Konzentrationslagers. Theiss/ Verlag Herder, 2024

Suzanne Cords Weltenbummlerin mit einem Herz für die Kultur