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Nach dem Vorstands-Aus: Setzen die Grünen ganz auf Habeck?

3. Oktober 2024

Vizekanzler Robert Habeck könnte vom Rücktritt des Grünen-Vorstands profitieren. Sein Umfeld plant einen auf ihn zugeschnittenen Wahlkampf - ohne ideologische Fesseln.

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Magdeburg Wirtschaftsminister Robert Habeck
Immer wissbegierig, nach vorne preschend: Robert Habeck im Juli 2024 beim Besuch eines Start-Ups in MagdeburgBild: Jens Thurau/DW

Gut möglich, dass es die schwerste Krise der deutschen Partei Die Grünen seit ihrer Gründung vor 44 Jahren ist: Der komplette Vorstand der Berliner Regierungspartei trat kürzlich zurück, später folgte ihm auch der Vorstand der Nachwuchsorganisation Grüne Jugend. Die heftige Kritik, ja der Hass auf die Partei in den sozialen Medien war dafür ein Grund, ein anderer die Tatsache, dass alle Themen der Partei derzeit in der Defensive sind. Die Schlagzeilen werden bestimmt von Wahlerfolgen der Rechtsextremen und Populisten, von Forderungen nach einer verschärften Asyl- und Migrationspolitik. Keine gute Zeit für die Energiewende. Oder für den Klimaschutz.

Zwei Krisen in längst vergangener Zeit

So etwas hat es bislang in der grünen Geschichte nicht gegeben, obwohl die nicht frei von heftigen Konflikten war. Etwa im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, 1990, als das Zusammenfinden von Ost und West alle Menschen beschäftigte, die Grünen aber partout über Umweltschutz reden wollten - und bei der Bundestagwahl (bis auf einige wenige Vertreter aus dem Osten) aus dem Bundestag flogen. Oder 1999, als die Grünen an der Seite der SPD erstmals mitregierten und dem NATO-Einsatz im Kosovo mit deutscher Beteiligung zustimmten. Es war ein Bruch mit allen pazifistischen Traditionen der Partei. Zehntausende Mitglieder verließen damals die Grünen.

Die Grünen-Parteivorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang in der Partiezentrale, nachdem sie ihren Rücktritt bekannt gegeben haben
Das war's: Omid Nouripour und Ricarda Lang verlassen die Vorstandsbühne der GrünenBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Vier schwere Wahlniederlagen in diesem Jahr

Und dennoch: So offen wie jetzt ist die Zukunft der Grünen wohl noch nie gewesen: Den spektakulären Rücktritten war eine Serie von Niederlagen bei Wahlen vorausgegangen. Zunächst bei der Europawahl: Noch 2019 kamen die Grünen bei der Europawahl auf satte 20,5 Prozent der Stimmen,  im Juni 2024 wurde die Partei fast halbiert auf 11,9 Prozent. Und im September folgten dann gleich drei herbe Niederlagen bei den Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Nur noch in Sachsen ist die Umweltschutzpartei im neuen Landtag vertreten. Ein Desaster.

Nouripour will die Ärmel aufkrempeln und zuhören

Und so entschlossen sich die Parteichefs Omid Nouripour und Ricarda Lang, einen Schlussstrich zu ziehen. Ihr Befund: Die Themen der Grünen, der Klimaschutz, eine moderate Reform der Asyl- und Migrationspolitik, seien nicht mehr bei den Menschen angekommen, die Partei werde als zu forsch empfunden, zu wenig mit den wirklichen Problemen der Menschen befasst. Nouripour sagte nach seinem Rücktritt der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Wir müssen wieder ausstrahlen, dass wir die Probleme angehen, nicht mit dem grünen Programm in der Hand, sondern mit aufgekrempelten Ärmeln und offenen Ohren." Er selbst schien dafür zuletzt nicht mehr die Kraft zu haben.

Deutschland:   Robert Habeck und Franziska Brantner unterhalten sich am Rande einer Bundestags-Sitzung
Habeck-Vertraute als Parteichefin? Der Vizekanzler und Franziska Brantner im BundestagBild: dts Nachrichtenagentur/IMAGO

Zwei Kandidaten mit guten Chancen

Und so wird auf dem Parteitag Mitte November in Wiesbaden sehr viel über sehr viel neues Personal gesprochen werden. Als neue Parteichefs werden gehandelt: die Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium, Franziska Brantner, und der Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak, bis 2022 Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen. Beide haben gute Chancen, gewählt zu werden, aber das eigentliche Thema wird in Wiesbaden wohl ein anderes sein: Ist es sinnvoll, inmitten schlechter Umfragewerte, mitten im Dauerstreit der Regierung um Rente, Haushalt und immer wieder um die Migration, ganz auf ein Pferd zu setzen? Auf Robert Habeck, den Vizekanzler und Wirtschaftsminister, der wohl auch Kanzlerkandidat seiner Partei wird für die Bundestagswahl im Herbst 2025?  Und der ja eigentlich ganz vorne selbst einer der Hauptakteure der grünen Krise ist?

Eine Habeck-Vertraute als neue Parteivorsitzende?

Brantner zumindest ist eine enge Vertraute des Ministers, ähnlich wie er gilt sie als ungeduldig, ehrgeizig, wenig Rücksicht nehmend auf die Befindlichkeiten der debattenfreudigen Partei. Vor gut einem Jahr, auf dem Parteitag in Karlsruhe, warb sie im Gespräch mit der DW leidenschaftlich für eine Aufweichung der Schuldenbremse. Tenor: Das Land braucht Geld, jetzt, viel Geld, notfalls aus Krediten: "Fast alle Wirtschaftswissenschaftler sagen, dass man die Schuldenbremse stärken muss, in dem man sie updatet, indem man sie den neuen Krisenzeiten anpasst. Das ist eine große Aufgabe, das kommt nicht sofort und wird uns auch nicht sofort helfen, aber natürlich müssen wir die Debatte darüber führen, wie wir in Deutschland krisenfähig bleiben wollen."

Banaszak und der Pazifismus von früher

Und ihr möglicher Partner an der neuen Parteispitze, Felix Banaszak, unterstützt nicht weniger leidenschaftlich die Aufrüstung der Bundeswehr und Waffenlieferungen an die Ukraine, ganz im Sinne Habecks. Er sagte der DW auf die Frage, ob junge Grüne wie er noch Pazifisten seien, wie die Parteigründer: "Im klassischen Pazifismus-Begriff der achtziger Jahre: nein. Wer Frieden erreichen will, braucht erst einmal militärische Stärke. Also nicht: Frieden schaffen ohne Waffen, sondern: Das Ziel aller bleibt eine friedlichere Welt."

Robert Habeck mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, rechts) und Finanzminister Christian Lindner (FDP,links) während einer Pressekonferenz
Schlechte Stimmung, miese Umfragen, viel Streit: Habeck mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, vorne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP)Bild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Das Habeck-Lager rüstet sich für den Wahlkampf

Rückblende, Anfang Juli 2024: Robert Habeck besucht diverse Firmen, gleich mehrere an mehreren Tagen. Sommerreise nennt man das. Da kommt die Nachricht, dass seine Parteifreundin, Außenministerin Annalena Baerbock, nicht noch einmal, wie 2021, Kanzlerkandidatin der Partei sein will. Damit läuft doch alles auf den prominentesten, wenn auch umstrittenen Wirtschafts- und Klimaschutzminister hinaus, oder? Der hält sich selbst erst einmal bedeckt, aber sein Umfeld plant schon. Diverse seiner Mitarbeiter überlegen: Stellt man Habeck in den Mittelpunkt, verzichtete man ganz auf allzu ideologische Forderungen, bietet man den Menschen Verlässlichkeit und Pragmatismus in schwerer Zeit an, dann können die Grünen wieder aufholen, neue Kraft gewinnen: "Warum sollen wir nicht ordentlich zulegen, wenn wir mehr in die Mitte der Gesellschaft gehen? Robert will das auf jeden Fall", so ein Habeck-Vertrauter. Jetzt, Anfang Oktober, hat Habeck längst offen verkündet, dass er das will. Seine Partei als Galionsfigur in die Wahlschlacht führen.

Das verflixte Heizungsgesetz

Ein gewagtes Spiel. Denn Habeck ist in all seinem Tun selten zögerlich, abwägend, eher nach vorne stürmend. Sein Versuch, die Gebäudeheizungen in Deutschland von zumeist Gas und Öl auf nachhaltigere Wärmepumpen umzustellen, geriet zum Flop. Zu schnell ausgearbeitet, zu wenig durchdacht, zu schlecht kommuniziert. Das Gesetz trat zwar in Kraft, aber in stark abgeschwächter Form. Seit dieser Niederlage sanken Habecks Beliebtheitswerte immer weiter. Aber oft hat der frühere Krimi- und Kinderbuchautor auch bewiesen, dass er lernfähig ist. Seine Ungeduld teilt er mit dem möglichen neuen Parteichef Banaszak, der 2023 im Gespräch mit der DW sagte: "Was gerade die jungen Menschen in der Bundestagsfraktion prägt, ist eine Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen. Und diese Ohnmacht, die viele junge Menschen verspüren, gerade in Bezug auf die Klimakrise: Da fehlt vielen einfach die Geduld."

Ein Spiel mit vielen Unbekannten

Es scheint offen, ob die Partei der Gruppe um Habeck dem Plan folgt, den Wahlkampf ganz auf den Vizekanzler zuzuschneiden. Aber es ist doch sehr wahrscheinlich, dass die zutiefst verunsicherte Partei ihrem derzeit bekanntesten Vertreter beim Griff nach der Kanzlerkandidatur nicht im Weg stehen will. Derzeit liegen die Grünen bei rund 11 Prozent in den Umfragen, eine Mehrheit für die Regierung aus SPD, Grünen und FDP ist in weiter Ferne.  Aber Habeck gilt als so pragmatisch, dass er sich auch ein Bündnis mit den Konservativen von CDU und CSU vorstellen kann. Es werden aufregende Zeiten in der schwersten Krise der Grünen.