Deutsche Auslandseinsätze auf dem Prüfstand
20. August 2021Das Deutschland, das die Welt heute kennt, spricht nicht gerne über die eigene militärische Stärke - geschweige denn, dass es sie einsetzt. Jahrzehntelang verblieben die deutschen Streitkräfte, die Bundeswehr, in der Nähe der Heimat oder spielten bei internationalen Einsätzen eine kleine Rolle, die keine Waffengewalt vorsah. Alles, was darüber hinausging, erzeugte verfassungsrechtliche Bedenken und politischen Gegenwind, wie die damalige Bundesregierung im Jahr 1999 erfuhr, als sie dem allerersten Kampfeinsatz zustimmte und sich den NATO-Verbündeten im Kosovo-Krieg anschloss.
Wenn Deutschland doch einmal seine Soldaten und Soldatinnen irgendwo hinschickt, um zu schießen und beschossen zu werden, dann ist das also keine kleine Sache. Das wurde nirgends deutlicher als in Afghanistan. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 beriefen sich die USA zum ersten Mal auf Artikel 5 der NATO - die Verteidigungsklausel des Bündnisses -, und Deutschland kam seinen vertraglichen Verpflichtungen nach.
Tausende von deutschen Soldaten waren an dem Einsatz beteiligt - nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums insgesamt 150.000. Er kostete das Land 59 Menschenleben und mindestens 12,5 Milliarden Euro (14,6 Milliarden Dollar) für Kampf- und Ausbildungsmaßnahmen. Deutschland gehörte zu den größten Truppenstellern des Bündnisses. Zwanzig Jahre später scheint durch den längsten, größten und gefährlichsten militärischen Auslandseinsatz des Landes wenig gewonnen.
Vom Hindukusch bis zur Sahara-Wüste
Die Bundeswehr ist nach Angaben des Verteidigungsministeriums aktuell an elf Auslandseinsätzen mit 2500 Soldaten und Soldatinnen auf drei Kontinenten beteiligt. Dazu gehören Einsätze im Irak, im Libanon, im Baltikum, auf dem Mittelmeer und vor der Küste Somalias. Obwohl jeder dieser Einsätze mit Risiken verbunden ist, schließen nur wenige von ihnen Kampfhandlungen mit ein, und die meisten fallen unter den Schirm einer multinationalen Organisation oder der Vereinten Nationen.
Deshalb gebe es wenig Grund zu der Annahme, dass die Erfahrungen in Afghanistan nennenswerte Auswirkungen auf andere Einsätze haben werden, sagt Sebastian Schulte, Chefredakteur von Griephan, einer militärischen Fachzeitschrift.
"Jeder Einsatz, an dem die Bundeswehr teilnimmt, ist für sich genommen ein individueller Einsatz, mit individuellen Zielen", sagt er. "Kein anderer Auftrag, den die Bundeswehr aktuell hat, ist so, wie es der in Afghanistan gewesen ist." Ein Marineeinsatz, der Piraten stoppen soll, sei beispielsweise nicht vergleichbar mit der Gewährleistung von Sicherheit in Masar-e-Sharif im Norden Afghanistans oder mit Aufgaben des Staatsaufbaus. "Vor diesem Hintergrund würde es mich sehr wundern, wenn man jetzt das Kind mit dem Bade ausschüttet", sagt Schulte.
Der Einsatz, der Afghanistan am ehesten ähnelt, ist jener in Mali, im Westen Afrikas. Mehr als die Hälfte der eingesetzten deutschen Streitkräfte ist dort im Rahmen von Friedenssicherungs- und Ausbildungsmissionen der Vereinten Nationen bzw. der Europäischen Union tätig. Zwar sind mehrere Tausend französische Soldaten für Kampfeinsätze verantwortlich, allerdings wurden auch deutsche Soldaten bei Angriffen verwundet.
Mali ist seit Jahren Schauplatz von Krieg, Gewalt und politischer Instabilität. Der Bundestag hat 2013 erstmals der Entsendung von 150 Soldaten in die UN-Friedensmission zugestimmt. Das Mandat wurde mehrfach verlängert, zuletzt im Mai, so dass die Truppenobergrenze nun bei 1100 Soldaten liegt. Über eine weitere Verlängerung soll nächstes Jahr beraten werden.
"Mali braucht weiterhin Stabilisierung und Entwicklung, in unserem eigenen Interesse, allerdings nicht nur militärisch", sagt Klaus Wittmann, ein ehemaliger General im Ruhestand, der DW. "Aber das bedarf klarer Ziele und Kriterien für 'Erfolg' und 'Fortschritt' sowie fortlaufender objektiver Evaluierung."
Ein weltweiter kritischer Blick
Schon vor dem Afghanistan-Rückzug sorgte der Mali-Einsatz wegen mangelnder politischer Fortschritte und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Deutschland für Diskussionen. Mindestens zwei Putsche haben in Mali in den letzten Jahren stattgefunden. Nun soll das deutsche Engagement auf den Prüfstand. Man müsse, so Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in der Rheinischen Post, "die anderen Auslandseinsätze der Bundeswehr dahingehend überprüfen, ob wir gut aufgestellt sind und was wir möglicherweise besser machen müssen"
Das Schlüsselwort sowohl für Regierungs- als auch für Oppositionspolitiker scheint das Wort "Ziele" zu sein. Auf einer Pressekonferenz sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel von der Notwendigkeit "kleinerer Ziele". Armin Laschet, der für die Unionsparteien CDU und CSU bei den Bundestagswahlen kommenden Monat als Merkels Nachfolger kandidiert, sagte, die Ziele müssten "klarer" sein.
Einzig die Linkspartei lehnt militärische Auslandseinsätze kategorisch ab, ebenso wie Waffenexporte und stellt das Bekenntnis zur NATO infrage. Wenn es nach der linksgerichteten Partei ginge, würde Deutschland Mali ebenfalls hinter sich lassen. Merkel und andere haben eingeräumt, dass Mali einige Aspekte mit Afghanistan gemeinsam hat: eine sich ausweitende Mission zur Stützung einer instabilen politischen Situation, die von militanten Kräften bedroht wird.
Intervention kann auch sinnvoll sein
Eine komplette Absage an Auslandseinsätze sei "nicht die richtige Lehre", sagte der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir im Deutschlandfunk-Radio. Es gebe Fälle, wo man eingreifen müsse, sagte er und verwies auf Beispiele, wo ein spätes oder gar kein Eingreifen zu viel Tod und Zerstörung geführt habe: der Bosnienkrieg etwa oder der Völkermord in Ruanda. Allerdings sprach er sich für eine "kritische Überprüfung" der aktuell laufenden Einsätze aus.
Bei Bundestagswahlen spielen Verteidigungs- und Außenpolitik normalerweise keine große Rolle. Das könnte sich in diesem Jahr ändern, da die Bundeswehr nun nur wenige Wochen vor dem Urnengang versucht, Menschen aus Afghanistan heraus zu retten.
"Das Timing ist eigentlich, zynisch gesprochen, jetzt mit dem Wahlkampf und der anschließenden Bundestagwahl ziemlich gut", sagt Griephan-Chefredakteur Sebastian Schulte. "Denn dadurch sind die Kanzlerkandidaten der Parteien gezwungen, sich mit so einem Thema einmal richtig auseinanderzusetzen."