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Politik

Merkel und die Neuerfindung der Fernsehrede

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Jens Thurau
11. April 2020

Kein Tweet wie bei US-Präsident Donald Trump: In Deutschland sprechen Kanzlerin und Bundespräsident direkt zum Volk. Richtig so, meint Jens Thurau.

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Deutschland Berlin | Coronavirus | Ansprache Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Ob auf dem Laptop oder am Fernseher - Millionen Menschen sahen die TV-Rede von Bundeskanzlerin MerkelBild: Imago Images/R. Wölk

Am 18. März 2020 strahlte das deutsche Fernsehen zur besten Sendezeit ein Format aus, das man mit Fug und Recht aus der Zeit gefallen nennen kann: Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, saß exakt dort, wo sie sonst bei ihren Neujahrsansprachen auch sitzt, im Bundeskanzleramt, hinter ihr ist der Reichstag zu sehen. Aber anders als sonst zum Jahreswechsel sahen und hörten ihr diesmal viele Deutsche zu, jeweils rund neun Millionen Menschen sowohl in der Ausstrahlung der ARD als auch im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF). Merkel sprach über die Corona-Krise: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt."

Die deutschen Politiker haben die Fernsehansprache wieder entdeckt. Das ist deshalb aus der Zeit gefallen, weil Kommunikation ja längst im Internet läuft, in den sozialen Medien, bei Twitter, bei Youtube. Und eine einseitige Ansprache an das Volk längst abgelöst ist vom dauerhaften Behauptungs- und Reaktionsspiel im hohen Tempo. Aber in Krisenzeiten ist das offenbar anders. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier meldet sich mit Video-Botschaften in immer kürzeren Abständen ans Volk, lobt Ärzte, Pfleger und Supermarktangestellte, versucht, so etwas wie Hoffnung zu verbreiten.

Kommunikation nebenbei

In der bald 15 Jahre dauernden Amtszeit von Angela Merkel ist die Ansprache ans Volk eigentlich ganz aus der Mode gekommen. Immer wieder wurde der Kanzlerin vorgeworfen, ihre wichtigen Entscheidungen kaum oder gar nicht kommuniziert zu haben. Der Ausstieg aus der Kernenergie etwa geschah fast ohne Kommentierung, auch in der Flüchtlingskrise sprach Merkel ihren berühmten Satz "Wir schaffen das" fast nebenbei während einer Pressekonferenz. Und während der Finanzkrise 2008 versicherte die Kanzlerin den Bürgern ebenfalls quasi im Vorbeigehen, bei einem kurzen Statement im Kanzleramt: "Ihre Einlagen sind sicher", ein gewagter Satz, der seine Wirkung aber nicht verfehlte. Die Deutschen verzichteten darauf, ihr Geld von der Bank abzuheben.

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DW-Redakteur Jens Thurau

Erstaunlich an der neuen Öffentlichkeits-Kanzlerin ist, wie gut sie das kann. Ihre Fernsehansprache traf den Nerv der Menschen, die zwölfminütige Rede war Gesprächsgegenstand in Familien und am Arbeitsplatz. Merkel traf den Ton, sie bewies, dass sie durchaus empathisch sein kann. Warum sie diese Mittel nicht öfter genutzt hat in der Vergangenheit, bleibt ihr Geheimnis.

Deutschland schaute gebannt zu

Früher, als es das Internet noch nicht gab, bedienten sich immer wieder Kanzler (und vor Merkel waren das nur Männer) der Fernsehansprache, wenn sie wirklich Wichtiges zu verkünden hatten. Willy Brandt etwa erläuterte den Deutschen in Ost und West seine Ost-Politik am Vorabend der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages mit Polen, 1970 war das. 1977, mitten im "Deutschen Herbst", der Konfrontation des Staates mit den Links-Terroristen der "Rote-Armee-Fraktion", sprach Kanzler Helmut Schmidt die Mörder von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer direkt an: "Sie mögen in diesem Augenblick ein triumphierendes Machtgefühl empfinden. Aber sie sollen sich nicht täuschen: Der Terrorismus hat auf Dauer keine Chance", sagte Schmidt mit festem Blick in die Kamera. Und Deutschland schaute gebannt zu.

Die Wiederentdeckung der Ansprache durch Merkel und Steinmeier hat natürlich einen klaren Grund: Ob das Handeln der Regierung in der Corona-Krise gelingt oder nicht, hängt entscheidend davon ab, ob das Volk mitspielt bei der Minimierung der Kontakte auf das Nötigste. Eine Fernsehansprache wirkt zudem verbindlich, kommt einem gesprochenen Gesetz gleich, gegen das man nicht so leicht verstößt. Kritiker mahnen die Kanzlerin seit ihrer Rede im Fernsehen denn auch, einen demokratischen Streit über das Für und Wieder der drastischen Corona-Maßnahmen nicht zu unterdrücken.

Renaissance der Fernsehansprache

Den Atomausstieg vor neun Jahren musste Merkel vor allem in ihrer eigenen Partei durchsetzen, was ihr mit viel Druck gelang. Eine Fernsehansprache hielt sie offenbar nicht für nötig damals. Aber die Epidemie muss tatsächlich vom ganzen Land, von all ihren Bürgern, bekämpft werden. Von Alt und Jung, von Internet-Kundigen und den vielen, die das eben noch nicht sind. Etablierte Medien, die man früher seriös nannte, feiern in der Corona-Krise auch eine Art Wiederauferstehung. Die Menschen lesen wieder Zeitungen, hören Radio. Und hören der Kanzlerin zu, die im Fernsehen spricht. Wenn die Zeiten ernst werden, will man wirkliche Informationen, nicht den täglichen Clash der Meinungen. Deshalb ist die sicher nur kurzfristige Wiederentdeckung der Rede im Fernsehen im Moment keine schlechte Idee.