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Kommentar: Fairness für Froome

Joscha Weber Bonn 9577
Joscha Weber
25. Juli 2015

Keine Frage, das Misstrauen hat sich der Radsport verdient. Aber selbst die Dopingskandale rechtfertigen nicht die Attacken, die Chris Froome ertragen muss. Der Toursieger verdient mehr Respekt, meint Joscha Weber.

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Christopher Froome steht im Gelben Trikot auf dem Podium und wischt sich die Freudentränen aus dem Gesicht (Foto: REUTERS/Stefano Rellandini)
Chris Froome, der designierte Gesamtsieger der 102. Tour de France, wischt sich die Freudentränen aus dem GesichtBild: Reuters/S. Rellandini

Man stelle sich einfach einmal Folgendes vor: Lionel Messi geht zur Eckfahne und legt sich den Ball zurecht. Plötzlich kippt ein Zuschauer aus der ersten Reihe einen Becher Urin über den argentinischen Starfußballer. Und etwas später spuckt ein anderer "Fan" Messi an. Undenkbar? Im Radsport leider nicht.

Denn dass er begossen und angespuckt wurde, das musste der Brite Chris Froome bei der Tour de France wiederholt erleben. Trotz einer erneuten Schwächephase im Aufstieg nach L'Alpe d'Huez, bei dem ihm der Kolumbianer Nairo Quintana gefährlich nah kam, steht er vor seinem zweiten - und insgesamt verdienten - Tour-Sieg nach 2013. Doch zumindest Teile des Publikums gönnen ihm den Erfolg nicht. Man kann das verstehen - und zugleich auch nicht.

Es gehört zur modernen Dialektik des Radsports, dass sich die Zuschauer am Streckenrand und am Fernseher hin und her gerissen fühlen zwischen Faszination und Verdacht. Es sind einerseits die Bilder von den bis zur Erschöpfung gegen Hitze und Berge ankämpfenden Athleten, die den alten Mythos von den "Helden der Landstraße" immer wieder neu beleben. Es sind andererseits die Dopingfälle sowie die von Sportwissenschaftlern und Dopingexperten geäußerten Vorwürfe, die den Zweifel an der Sauberkeit des Rad-Spektakels nähren. Also: glauben oder misstrauen? Eine Frage, die jeder für sich beantworten muss, denn es mangelt an Beweisen - für das eine wie für das andere.

Widerwärtige Attacken auf Froome

Woran es leider ebenfalls mangelt, ist Fairness. Die Attacken auf Chris Froome mit diversen Körperflüssigkeiten sind widerwärtig und durch nichts zu rechtfertigen. Nirgends kommen die Fans den Sportlern so nah wie im Radsport, nirgends sind die Profis ihrem Publikum zugleich so ausgeliefert. Ein besonderes Verhältnis der Nähe, das von beiden Seiten verantwortliches Handeln erfordert. Auch oder gerade der Träger des Gelben Trikots verdient hier Respekt.

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DW-Sportredakteur Joscha Weber: "Nur gegenseitige Fairness hilft dem Radsport wieder nach vorne"

Chris Froome fährt am Sonntag einen verdienten Sieg ein, weil er auf jedem Terrain etwas besser war als seine Konkurrenz. Sportlich muss man der Leistung des Sky-Kapitäns große Anerkennung zollen. Doch genau diese verweigern ihm einige Beobachter, zu überlegen sei seine Fahrweise, zu hoch seine (nicht immer korrekt errechneten) Leistungszahlen, zu sehr erinnere sein Team an den US-Postal-Rennstall von Lance Armstrong. Froome sagt, dass er "sehr hart gearbeitet" habe für den Sieg, sein extrem niedriges Gewicht verlangt viel Disziplin, so viel ist klar. Ob all das aber ohne den Einsatz von illegalen Mitteln und Methoden möglich ist, ist weder zu belegen noch zu widerlegen. Und deshalb muss Froome bis zum Beweis des Gegenteils als sauber gelten - und auch so behandelt werden.

Zerstörtes Vertrauen

Ja, Froomes fulminante Antritte in den Bergen mit enormer Kadenz produzieren ebenso Zweifel wie die Tatsache, dass sein Sky-Team trotz angeblicher Zero-Tolerance-Politik immer wieder mit Ärzten und Betreuern zusammenarbeitet, die in Dopingaffären verstrickt waren. Und dennoch spricht auch das eine oder andere für Froome: Nicht nur deutsche Radprofis, sondern auch Froome setzte sich öffentlich für nächtliche Dopingkontrollen ein - eine Maßnahme, die nächtliches Doping mit Mikrodosierungen (die bis zum Morgen nicht mehr nachweisbar sind) verhindern soll. Ein bemerkenswerter Vorstoß, der zeigt, zu welch drastischen Schritten der Radsport im Anti-Doping-Kampf bereit ist. "Was soll ich eigentlich noch tun?", fragte Froome verzweifelt.

Der deutsche Radprofi Simon Geschke im Porträt (Foto: EPA/DANIEL DAL ZENNARO dpa Bildfunk)
Deutsche Radprofis kämpfen für ihren Sport: Simon Geschke gewinnt die 17. Tour-Etappe in Pra LoupBild: picture-alliance/dpa/D. Dal Zennaro

Eine Frage, die sich auch deutsche Radsportler stellen. Die neue Generation, die sehr offensiv Glaubwürdigkeit für sich reklamiert, tut so ziemlich alles für mehr Aufmerksamkeit: Sechs Etappensiege bei der Tour 2015 durch André Greipel, Tony Martin und Simon Geschke, insgesamt 19 Tageserfolge binnen drei Jahren - Deutschland ist in der Tat "eine Macht im Radsport", wie Tour-Chef Christian Prudhomme feststellt. Doch die Einschaltquoten bei den Übertragungen der Tour in Deutschland bewegen sich nach dem Wiedereinstieg der ARD auf bescheidenem Niveau. Zerstörtes Vertrauen baut sich eben nicht von heute auf morgen wieder auf.

Und dennoch: Wenn wir, das Publikum, von den Sportlern Fairness und ein sauberes Verhalten erwarten, können diese selbiges zu Recht auch von uns erwarten.

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