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Politik

Schulz macht Merkels Job

Thurau Jens Kommentarbild App
Jens Thurau
12. September 2018

Den schärfsten Widerspruch auf seine Rede bekommt AfD-Chef Alexander Gauland im Bundestag von Martin Schulz. Weil Angela Merkel das nicht kann. Oder weil ihr die Kraft dazu fehlt, meint Jens Thurau.

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Deutschland Bundestag
Nicht am Rednerpult, von seinem Sitzplatz aus reagiert Martin Schult auf Oppositionsführer GaulandBild: Reuters/H. Hanschke

Da steht sie nun, die Bundeskanzlerin, an diesem Tag voller Emotionen im Bundestag. Und trägt wie immer ruhig und sachlich vor. Still ist es dabei im Parlament, merkwürdig still. Denn eigentlich gelten all die Emotionen, die Verrücktheiten, Entgleisungen ihr, ihrer Migrationspolitik um genau zu sein. Zu Beginn der Debatte hat die rechts-populistische AfD ein Bild von Deutschland gemalt, das ungefähr so geht: Die Angst geht um im Land, auf den Straßen. Fast täglich verüben Ausländer Gewalt gegen Deutsche, bis hin zum Mord.

Martin Schulz: Hochemotional

Den SPD-Abgeordneten Martin Schulz hält diese Beschreibung eines Landes am Abgrund nicht mehr auf seinem Stuhl, er antwortet hochemotional. Schulz, der ehemalige Kanzlerkandidat, der Merkel-Herausforderer vom vergangenen Jahr, von dem die Deutschen zum Schluss nicht mehr wussten, was er dachte und wollte, der vernichtend geschlagen wurde. Jetzt ballt er die Faust, blickt wutentbrannt in die Reihen der AfD, spricht von "Mitteln des Faschismus". Davon, dass das früher auch so war: eine Gesellschaftsgruppe, eine Minderheit natürlich, wird für alles Übel verantwortlich gemacht. Und als Schulz das sagt, erheben sich Abgeordnete zum wilden Applaus - bei den Linken, den Grünen, der SPD. Ein Hauch von Weimar liegt in der Luft.

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Jens Thurau ist Korrespondent im Hauptstadtstudio

Wie erreicht man die schweigende Mehrheit?

Und jetzt Merkel: In die Stille des Parlaments hinein sagt sie einen klassischen Merkel-Satz: "Die Mehrheit der Menschen in Deutschland lebt und arbeitet für ein gutes und tolerantes Miteinander, davon bin ich zutiefst überzeugt." Ja, kann sein. Ist sogar sehr wahrscheinlich. Es ist ja quasi Merkels einzige Chance - darauf zu hoffen, dass die schweigende Mehrheit angewidert ist von den hysterischen Debatten um die Ausfälle in Chemnitz, in Köthen, vorher an anderen Orten. An die Aufmärsche von Rechtsextremen und Hitler-Verehrern, die Ausländer jagen und jüdische Restaurants überfallen. Die Frage ist nur, ob das reicht. Ob die sachliche Frau mit den Nerven aus Stahl es noch schafft, den Menschen das Gefühl zu geben, sie könne die Gemüter beruhigen und dem Land wieder eine anständige Richtung geben. Denn es wirkt irgendwie, als beschreibe da die Kanzlerin eine Gesellschaft und ein Land, von vielleicht 2010.

Sehr cool inmitten der Zumutungen - zu cool.

Aber der Streit um die Migrationspolitik ist längst viel mehr: Ein Streit um die generelle Richtung des Landes, darüber, ob Gesetze und Gewaltenteilung noch funktionieren. Und wenn ja, ob der Staat - Polizisten, Richter, Beamte, Sozialarbeiter - es noch hinbekommen, die Sicht der schweigenden Mehrheit auch durchzusetzen. Die Bilder von Nazis, die Ausländer jagen, sind schlimm genug. Aber die Politik steht eben nicht gleich entschieden dagegen auf. Der Ministerpräsident in Sachsen widerspricht Merkel, als sie von Hetzjagden spricht.  Merkels eigener Innenminister im Grunde auch. Und der Präsident des Inlands-Geheimdienstes überschreitet seine Kompetenzen und zweifelt ebenfalls an, dass in Chemnitz Jagden auf Ausländer stattgefunden haben. Merkel bleibt dabei, es gab Hetze, wie sie jetzt sagt. Aber sie sagt das in einem Ton, als gelte es, eine Novelle des Baugesetzes zu begründen.

Gut gemacht, Martin Schulz !

Und so beschleicht einen das Gefühl, dass die schweigende Mehrheit der Vernunft, des Maßes, der Abgewogenheit auch mal aufgerüttelt werden muss. Merkel schafft das offensichtlich nicht mehr. Martin Schulz hat es jetzt im Bundestag zumindest probiert: Emotional, auf den Punkt, klar. Vielleicht ist es ja ein Trost für die schwer gebeutelten Sozialdemokraten, wenn mal durchschimmert, dass ihr früherer Chef und Kanzlerkandidat dem Land offenbar auch nicht schlecht zu Gesicht gestanden hätte an der Spitze. Wann es Zeit ist, die Dinge laut und deutlich beim Namen zu nennen, dafür scheint Schulz jedenfalls ein klares Gespür zu haben.