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"In aller Munde" - das Orale in der Kunst

Antje Allroggen
1. November 2020

Der Mundraum wird zum Kunstobjekt. Das Kunstmuseum Wolfsburg widmet dem Oralen erstmals eine eigene umfangreiche Ausstellung.

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„Once Bitten, Twice Shy“ von Kemany Wa Lehulere: Zwischen einem Gebiss steckt ein Stück Holz (Kemang Wa Lehulere, Courtesy Stevenson Cape Town/Johannesburg)
"Once Bitten, Twice Shy" heißt diese Installation des Südafrikaners Kemang Wa LehulereBild: Kemany Wa Lehulere, Courtesy Stevenson Cape Town/Johannesburg

Trotz des staatlich angeordneten kulturellen Lockdowns ab dem 2. November hielt das Kunstmuseum Wolfsburg an der Eröffnung seiner Ausstellung "In aller Munde - Von Pieter Bruegel bis Cindy Sherman" am 31. Oktober, fest und öffnete den Besuchern seine Tore.

Der Direktor des Kunstmuseums, Andreas Beitin, gehört zu den Mitunterzeichnern einer Stellungnahme, in der die erneute landesweite Schließung von Kultureinrichtungen und Museen kritisiert wird. Für die Schau in seinem Haus ist der Lockdown besonders tragisch, weil sie zwei Tage nach der Eröffnung schon wieder schließen muss.

Faszination Mund in Medizin und Kunst

Ein Mann steht in einem nachgebauten überdimensionalen Mundraum - Installation von Piotr Uklanski - Kunstmuseum Wolfsburg - Ausstellung "In aller Munde" (Piotr Uklánski, Courtesy der Künstler und Gagosian Gallery)
Piotr Uklánski schuf den Mundraum als begehbare InstallationBild: Piotr Uklánski, Courtesy der Künstler und Gagosian Gallery

Die Idee für die ungewöhnliche Schau hatten der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme und die Berliner Zahnärztin Beate Slominski. Beide beschäftigen sich schon seit Langem mit dem Oralen. An der Erkundung der Mundhöhle, so ihre Überlegung, haben sich seit jeher nicht nur Naturwissenschaft und Medizin abgearbeitet, sondern auch die Kunst und Kulturgeschichte - von der Antike bis zur Gegenwart.

Mit dem Mund beginnt die Erschließung der Welt. Ein Neugeborenes schmeckt und riecht mit ihm und erlebt so seine ersten Sinneseindrücke. Der Mund ist der Schlüssel für unsere Mimik, unseren Ausdruck, für unsere Sprache und Kommunikation.

Erste umfassende Überblicksausstellung in Wolfsburg

"Das Besondere an der Ausstellung ist einfach, sich einmal vor Augen zu führen, was eigentlich die Bedeutung des Mundes ist, wenn man alle Funktionen, die er hat, zusammenführt", sagt Kuratorin Uta Ruhkamp. Denn genau genommen gehe es nicht nur um den Mund, sondern auch um Lippen, Zähne, Zunge, Schleimhäute, Zäpfchen und Rachenraum.

Das Kunstmuseum Wolfsburg hat diesem komplexen Thema die erste umfassende Überblicksausstellung in Deutschland überhaupt gewidmet. Ein arbeitsreiches und ehrgeiziges Unterfangen. Wohl deshalb wird die Schau großzügig von der Kulturstiftung der Länder gefördert.

Pandemie nicht im Fokus

Die Aufgabe von Uta Ruhkamp war es, die umfangreiche Materialfülle - darunter Werke von Pieter Bruegel dem Älteren und Albrecht Dürer ebenso wie von Pablo Picasso, Marina Abramović und Andy Warhol- zu sichten und zu strukturieren. Sie entschied sich, die unterschiedlichen kulturhistorischen Aspekte zum Thema in einzelne Kapitel zu gliedern.

"Little Bathers" von Rona Pondick - Kunstmuseum Wolfsburg - Ausstellung "In aller Munde" (Courtesy die Künstlerin und Marc Straus, New York)
"Little Bathers" von Rona PondickBild: Rona Pondick, Courtesy die Künstlerin und Marc Straus, New York

Als das Team anfing, für die Ausstellung zu recherchieren, gab es Corona noch gar nicht. Doch mittlerweile ist der Mund- und Rachenraum zum Ort eines hochinfektiösen Geschehens geworden, das sich rund um den Erdball ausgebreitet hat -  bietet er doch mit seiner Schleimhaut das ideale Substrat für Überlebens- und Verbreitungsmöglichkeiten des Coronavirus.

Damit ist das Orale in den Fokus der gesellschaftlichen und politischen Debatte gerückt. In die Konzeption der Schau ist die Pandemie allerdings nicht mehr eingeflossen.

Höllenschlund und antiker Lügendetektor

Rund 250 Werke von der Antike bis zur Gegenwart finden sich in der Ausstellung. Gemälde, Skulpturen, Installationen, Fotografien, Zeichnungen und Videokunst sowie Exponate aus ethnologischen und naturwissen­schaft­lichen Sammlungen, aus Film, Werbung, Musik und Literatur haben die Macher zusammengetragen.

Schon im Alten Testament wird in den Büchern Hiob und Jesaja der Mund als Hölle im Rachen beschrieben. "Aus dem Höllenrachen wird dann irgendwann ein menschliches Maul", erklärt Ruhkamp. Auch die "Bocca della verità", der Mund der Wahrheit, eine bekannte Sehenswürdigkeit in Rom, gehört in diese Kategorie: eine Art antiker "Lügendetektor". Wer seine Hand in das Maul des marmornen Gesichts steckt und dabei die Unwahrheit spricht, dem wird sie abgebissen - so die Legende.

Mund der Wahrheit - Rom, Italien
Achtung: Wer seine Hand ins Maul der "Bocca della Verità" schiebt, sollte besser die Wahrheit sagen Bild: BilderBox/McPhoto/blickwinkel/picture alliance

Die Ausstellung zeigt in diesem der Antike gewidmeten Teil etliche Werke alter Meister: Gemälde, Skulpturen und Grafiken von Hieronymus Bosch, Jan Steen, Pieter Bruegel d.Ä. und Albrecht Dürer etwa.

Bruegel ist mit einem Kupferstich zur "Versuchung des Heiligen Antonius" vertreten. Die Darstellung beschwört eine sündhafte Welt herauf: Im Mittelpunkt des Bildes liegt ein riesenhafter Kopf, aus dessen Mund eine lange Zunge herausragt. Dadurch wird der Blick in den Mundraum frei, in dem sich ein Mann, offenbar ein Mönch, irdischen Freuden hingibt. Szenen, die an Bilder von Hieronymus Bosch erinnern.

Von Lippen und vom Küssen: Der Aufbau der Wolfsburger Schau

Nach diesem metaphorischen Einstieg arbeitet sich die Ausstellung physiognomisch vor. Wenn man auf einen Mund schaut, sieht man zuallererst die Lippen. Also gibt es ein Kapitel rund um den Mund: Zu sehen sind hier etwa Werke von Salvador Dalí, der die Lippen der US-amerikanischen Schauspielerin Mae West verbildlicht hat, oder von Man Ray, der die Lippen von Lee Miller verewigte. Und Andy Warhol schließlich setzte die Lippen von Marylin Monroe in Szene.

Das Rote Sofa von Salvador Dalí - Kunstmuseum Wolfsburg - Ausstellung "In aller Munde"
Das Rote Sofa von Salvador Dalí in einer modernen ReplikBild: Marek Kruszewski

Auch dem Kuss ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Dort ist zum Beispiel Pablo Picassos Zeichnung "Le Baiser" zu sehen: ein Paar, dessen Zungen sich ineinander verschlungen haben. Eine andere Variante des Küssens zeigt Edvard Munchs "Liebesbiss", der Todeskuss eines Vampirs.

Die US-amerikanische Künstlerin Cindy Sherman wiederum beschäftigt sich mit Fragen zu Rollenbildern, Körperlichkeit und Sexualität: In ihren Fotoserien zeigt sie Frauen mit grell geschminkten Lippen oder verschmierter Wimperntusche.

Auch die Zunge kommt in der Ausstellung nicht zu kurz: Sie kann lecken und schmecken und schlingen und sich sinnlichen Vergnügen hingeben. Mona Hatoum schließlich dringt bis in die Speiseröhre vor, während Künstler wie Man Ray oder Anselmo Fox ihren Atem in Glas-, Seifen- oder Kaugummiblasen einschließen.

Von Zähnen und dem Zahn der Zeit

An einer Wand hängen zahlreiche Fotos mit schreienden Gesichtern - Kunstmuseum Wolfsburg - Ausstellung "In aller Munde"
Herlinde Koelbls Fotografie-Serie „Schrei!“Bild: Marek Kruszewski

Ein anderes Ausstellungskapitel dreht sich um die Zähne: Darin geht es ums "Zähne zeigen" und "Zahnschmerz", um "Zahn und Zierde". Zu sehen ist hier etwa das Bildnis "Der Zahnreißer" von 1651, bei dem der Betrachter Zeuge einer schmerzhaften Zahnbehandlung wird. Gemalt wurde es von dem Niederländer Jan Steen. Bei den Werken zur Dentalkultur stoßen die Besucher auch auf Apollonia, die Schutzheilige der Zahnärzte, und auf Zahnschmuck aus außereuropäischen Kulturen.

"Letztendlich", sagt Uta Ruhkamp, "beschreiben die Zähne unser Leben wie eine Lebensklammer: Wir kommen auf die Welt, dann haben wir Schmerzen, weil wir die ersten Zähne bekommen, unter Schmerzen verlieren wir die Milchzähne dann wieder, dann gibt es wieder Schmerzen, wenn die permanenten Zähne kommen, und dann widmen wir uns unser Leben lang der Zahnpflege bis hin zum letzten Zahn."

Die Ausstellung "In aller Munde. Von Pieter Bruegel bis Cindy Sherman" im Kunstmuseum Wolfsburg läuft bis zum 5. April 2021. Pandemiebedingt schließt sie voraussichtlich vom 2. bis zum 30. November.