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PolitikÄthiopien

Hilfe für Überlebende des Tigray-Krieges

19. Juni 2024

Beim Bürgerkrieg in der äthiopischen Region Tigray starben Hunderttausende Menschen, über eine Million wurden vertrieben. Auch Vergewaltigung war ein Mittel der Kriegsführung. Die Folgen sind bis heute spürbar.

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Eine Frau sitzt auf der Bettkante in einem Zimmer mit kräftig-orange gestrichenen Wänden, den Blick vom Betrachter weg zu einem Fenster gewandt; Links ein Schlaflager auf dem Boden, rechts ein Wandspiegel und ein Plastikstuhl
Der Krieg in Tigray mag vorbei sein, aber viele Überlebende müssen mit Traumata fertig werdenBild: Ximena Borrazas

Warnung: Dieser Artikel enthält Schilderungen von sexualisierter Gewalt, die auf manche Menschen verstörend wirken können.

In den Straßen von Mekele, der Hauptstadt der äthiopischen Region Tigray, sitzt eine etwa 70-jährige Frau auf dem Bürgersteig, streckt mit scheinbar letzter Kraft ihre Hände aus und bettelt um eine kleine Geldspende, um etwas zu Essen zu kaufen. Wenn die Sonne untergeht und die Lichter der Tuk-Tuks die Straßen erhellen, wird die Armut noch sichtbarer. Verlassene Kinder im Alter von drei bis neun Jahren fangen Passanten ab, um ihnen Taschentücher oder Kaugummi zu verkaufen.

Vor dem Ausbruch des Krieges in Tigray war das Leben für die 42-jährige Kebedesh und ihre Familie ganz anders. Sie führte ein kleines Hotel und war auch in der Landwirtschaft tätig. Alles lief gut und die Zukunft sah vielversprechend aus. Dann, am 4. November 2020, brachen Kämpfe zwischen der äthiopischen Armee und der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) aus. In dem Krieg, der zwei Jahre dauerte, schlossen sich später auch eritreische Streitkräfte und Amhara-Milizen den äthiopischen Regierungstruppen an.

Wie der Tigray-Krieg begann

Zusammenstöße brachen aus, nachdem TPLF-Kämpfer die Hauptbasis der Zentralregierung in Mekele angegriffen hatten. Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed schwor, den Aufstand niederzuschlagen, und ordnete eine massive militärische Offensive in der Region an. Die TPLF, die die Region Tigray regierte, hatte sich zunächst geweigert, die Verschiebung der Wahlen aufgrund der COVID-19-Pandemie anzuerkennen, und eigenständig regionale Wahlen in Tigray abgehalten. Zudem lehnte die TPLF, die seit 1991 die äthiopische Politik dominierte, Abiys Reformen vehement ab und bezeichnete diese als Versuch, ihren Einfluss zu untergraben.

Vergewaltigung als Kriegswaffe

Auch für Kebedesh war der Kriegsausbruch ein Einschnitt: Nur eine Woche nach Ausbruch der Kämpfe wurden sie und ihre achtjährige Tochter Eskedar von fünf Soldaten abgefangen, als sie durch ein ländliches Gebiet nahe der eritreischen Grenze gingen. Mehrere von ihnen seien aus dem Ausland gewesen, eines ein äthiopischer Regierungssoldat, sagt sie. "Sie fragten mich in aggressivem Ton: 'Haben Sie einen Mann bei der TPLF?' Ich sagte nein", erinnert sich Kebedesh. Trotzdem vergewaltigten die fünf Männer sie nacheinander. Gleichzeitig stachen sie mit Messern auf ihre Tochter ein und schütteten kochendes Wasser über ihren Bauch, um ihre verzweifelten Hilferufe zum Schweigen zu bringen.

Nachdem die Täter geflohen waren, sammelte Kebedesh all ihre verbleibende Kraft und brachte ihr schwer verletztes Kind zu einer äthiopischen Militärbasis, um medizinische Hilfe zu erhalten. Laut dem International Bar Association's Human Rights Institute (IBAHRI), einer Nichtregierungsorganisation, die sich weltweit für Menschenrechte und die Unabhängigkeit der Justiz einsetzt, wurden während des Krieges in Tigray rund 120.000 Menschen sexuell missbraucht. "Einige von ihnen haben wegen des Stigmas Selbstmord begangen," sagt Yirgalem Gebretsadkan, Leiter der Abteilung für Gewalt gegen Frauen der Tigray-Genozid-Untersuchungskommission, im Gespräch mit der DW.

Leben im Lager für Binnenvertriebene

Nach der mehrfachen Vergewaltigung war in Kebedeshs Leben und im Leben ihrer Tochter nichts mehr wie vorher. Drei Monate lebten sie in einem Lager für Binnenvertriebene in Adwa, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen zurechtkommen mussten. Adwa, 160 Kilometer nördlich von Mekele gelegen, hat etwa 40.500 Einwohner. Das Adwa Women's Affairs Office hat 1374 Vergewaltigungsfälle registriert; 86 der untersuchten Personen waren HIV-positiv, 72 davon Kinder.

Ein Mädchen (Rückansicht) sitzt auf einem einzeln stehenden Stuhl an einem Schultisch in einem Klassenraum und schaut zur Seite, vor ihr eine leere Wandtafel
Kebedeshs junge Tochter träumt davon, Ärztin zu werdenBild: Ximena Borrazas

Bei der Don-Bosco-Mission bekamen Kebedesh und ihre Tochter Hilfe: "Father Luan, der für das religiöse Zentrum verantwortlich ist, hörte von unserer Geschichte und nahm uns ins Programm für Frauenopfer sexueller Gewalt auf," erzählt Kebedesh der DW mit einem Ton der Erleichterung in ihrer Stimme. Seitdem teilen sie sich eine Wohnung von fünf Zimmern mit zehn anderen Menschen, die dasselbe schreckliche Schicksal erlitten haben.

Trauma und Stigma bewältigen

Wenn die heute elfjährige Eskedar ihr T-Shirt hochzieht, eröffnet sich ein Bild, das betroffen macht. Eine große Narbe ist zu sehen, unter der das Mädchen auch psychisch leidet. Dazu kommen Magenprobleme, die von den Messerstichen herrühren. Das Mädchen besucht eine Privatschule, die ihr das Don-Bosco-Zentrum finanziert. Laut ihrer Mutter hat sie keine Freundinnen. "Manchmal hat sie Angst, zur Schule zu gehen, sie hat Angst, dass jemand sie wieder angreifen könnte."

Zusätzlich zu all den Erlebnissen der letzten vier Jahre leiden Mutter und Tochter nun unter Stigmatisierung. "Deine Mutter wurde vergewaltigt," sagten einige Leute spöttisch zu Eskedar auf der Straße, als sie sie nach einem lokalen Fernsehinterview mit Kebedesh erkannten. Jetzt ziehen sich beide weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück und haben Angst, sich zu äußern. Denn die Gesellschaft stigmatisiert Vergewaltigungsopfer. Sie fürchten, in die Enge getrieben und gezwungen zu werden, die Stadt zu verlassen.

Sexualisierte Gewalt trotz Friedensabkommen

Kebedeshs Familie wurde in zweifacher Hinsicht getrennt. Ihr Mann floh zu Beginn des Krieges und ließ sie mit vier Kindern zurück. Erst kürzlich kam die Nachricht, dass er wohl  im Zuge des Kriegs gestorben sei. Ihr ältester Sohn hingegen soll angeblich im Sudan mit der TDF (Tigray Defense Force) kämpfen, sagt Kedebesh. "Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens (im November 2022) erhielt ich einen Brief von ihm, also weiß ich, dass er am Leben ist," sagt die Mutter mit einem Ton der Erleichterung.

Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Tigray bleibt

Trotz tiefgehender körperlicher und psychischer Wunden bleiben Kebedesh und Eskedar hoffnungsvoll. "Ich träume davon, meinen eigenen Mini-Markt zu eröffnen und alle meine Kinder zum Studieren zu schicken," gibt Kebedesh an. "Eskedar träumt davon, Ärztin zu werden, um sich selbst und ihrem Volk zu helfen," fügt sie lächelnd hinzu.

Tigray erlebte einen der blutigsten Kriege des 21. Jahrhunderts, bei dem mindestens 600.000 Menschen getötet und mehr als eine Million aus ihren Häusern vertrieben wurden. Trotz eines im November 2022 unterzeichneten Friedensabkommens zwischen der TPLF und der äthiopischen Bundesregierung bleibt die Situation in Tigray unsicher, obwohl es mehrere Treffen zwischen Abiys regierender Wohlstandspartei (PP) und der TPLF gab. Derzeit sieht sich Tigray mit schwerer Hungersnot und extremer Armut konfrontiert, mit Zehntausenden Zivilisten, die in Lagern für Binnenvertriebene leben.

Zwei Tuk-Tuks rahmen den Blick auf eine äthiopische Teerstraße ein, auf der große Pfützen stehen; im Hintergrund einzelne Menschen und ein Straßenkiosk
Adwa im nördlichen Tigray ist für viele, die vor der Gewalt geflohen sind, zu einem Zufluchtsort gewordenBild: Ximena Borrazas

Ein Bericht des US-amerikanischen New Lines Institute, der am 4. Juni veröffentlicht wurde, behauptet, dass es stichhaltige Beweise dafür gebe, dass äthiopische Regierungstruppen während des zweijährigen Konflikts einen Völkermord an den Tigray-Völkern begangen zu haben. Der 120-seitige Entwurf bezieht sich auf glaubwürdige Quellen, die darauf hinweisen, dass Regierungstruppen und ihre Verbündeten "Handlungen begangen haben, die dem Verbrechen des Völkermords gleichkommen." Die Autoren fordern, dass die äthiopische Regierung vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) gebracht wird, um sich den Anklagen zu stellen.

Aus dem Englischen adaptiert von António Cascais

Brutaler Bürgerkrieg in Äthiopien