Europa und seine Migranten
21. Mai 2019Sandra Vacca zieht sich die Handschuhe an, steigt auf einen kleinen Hocker und öffnet den Reißverschluss. Dahinter hängen rote Schilder mit Berufsbezeichnungen auf Türkisch: Automechaniker, Metallarbeiter, Verpackungs-Anfertiger. "Das sind Originalschilder von der Vermittlungsstelle in Istanbul, wo man damals Arbeitsmigrantinnen und -migranten angeworben hat. Man hat die Menschen in ihren Heimatländern rekrutiert. Das hier sind die Berufe, die in Deutschland gesucht wurden, mit einer Mengenangabe, also wie viele Personen mit solchen Berufen gesucht wurden", erzählt die studierte Museologin.
Vacca leitet das Projekt "Virtuelles Migrationsmuseum" beim Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) in Köln. Dafür hat das kuratorische Team Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte interviewt. Ihre und andere Geschichten aus dem DOMiD-Archiv werden im virtuellen Migrationsmuseum erzählt: digital, interaktiv, spannend. Der User kann sich durch verschiedene Jahrzehnte klicken und in die einzelnen Lebensgeschichten eintauchen. "Wir wollten die Geschichte Deutschlands neu erzählen - durch die Perspektiven der Migranten und Migrantinnen, denn ihre Erfahrungen sind meistens unbekannt geblieben. Jede Geschichte zählt. All diese Gegenstände, die wir im Depot lagern, beginnend von der Kanne, über das Buch bis hin zu dieser Kassette, erzählen Migrationsgeschichten", sagt Sandra Vacca.
Familiengeschichten: Ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft
Die Exponate, die im virtuellen Museum zu sehen sind, lagern im Depot des DOMiD Vereins: sorgfältig in Kartons und speziellen Hüllen verpackt. Begonnen hat die Sammlungsarbeit vor 30 Jahren, als türkische Migrantinnen und Migranten den Verein im Jahr 1990 gegründet haben. Inzwischen lagern hier etwa 150.000 Exponate aus der ganzen Welt.
"Oft denken die Menschen, dass sie nichts zu erzählen haben, aber dann unterhalten wir uns mit ihnen, gucken uns gemeinsam Fotos an, finden Gegenstände - und dann fangen sie an, die Geschichten dahinter zu erzählen und merken, wie wichtig, vielschichtig und interessant ihr eigenes Leben ist." Es sind Gegenstände wie ein Pass, auf dem die erste Aufenthaltserlaubnis klebt, ein Schulzeugnis ohne Noten, denn wenn man kein Deutsch sprach, wurde man in den ersten Schuljahren nicht benotet. Es sind Geschichten vom Ankommen. Aber auch von Ausgrenzung: "Rassismus und der Umgang damit ist ebenfalls ein Thema bei uns. Wir haben zum Beispiel die Anklageschrift und Demoschilder des Tribunals 'NSU-Komplex auflösen', Interviews mit Betroffenen und andere Objekte in unserem Archiv, die auch diese Seite der Geschichte beleuchten", sagt Vacca. Unter einem Glaskasten steht das Radio der Familie Genç, gegen die 1993 in Solingen ein Brandanschlag verübt wurde. Fünf Menschen starben.
Eine Kassette für die Eltern, zwei Pratzen für die Jugend
Sandra Vacca zeigt eines ihrer Lieblingsobjekte. "Das ist eine Kassette von einem sogenannten Kofferkind. Das waren Kinder, die bei der Oma, Tante oder anderen Familienmitgliedern aufwuchsen, während die Eltern in Deutschland gearbeitet haben - aus einem Jahr wurden zwei, dann drei, vier, irgendwann waren es zehn. Sie haben sich diese Kassetten statt Briefe geschickt, damit man die Stimme hören konnte. Wir haben eine Kassette, wo man ein Mädchen singen hört. Eine von vielen sehr emotionalen Geschichten", sagt Vacca. Neben ihr steht ein weiteres Ausstellungsstück: ein Paar Pratzen, Schlagpolster fürs Boxtraining. Das Leder ist abgeranzt, mit Löchern gespickt. Vor etwa einem Jahr fanden sie ihren Weg hier ins Museumsdepot.
Boro Mrkovic hat sie gestiftet: "Mit diesen Pratzen haben sehr viele Menschen trainiert, egal ob aus dem Osten, Westen oder Süden, wir sind alle gleich", erzählt Markovic, der seit vielen Jahren Boxsport betreibt. Er selber ist 1975 als Kind einer Gastarbeiterfamilie aus Bosnien und Herzegowina, damals Teil Jugoslawiens, nach Deutschland gekommen. 1988 kehrte die Familie wieder zurück in die alte Heimat, doch wenige Jahre später beginnt der Krieg - und Boro Mrkovic kommt 1993 wieder nach Deutschland zurück - diesmal als Kriegsflüchtling. Seitdem lebt er in einer kleinen Stadt in der Nähe von Köln. Auf die Frage, was nun seine Heimat ist, antwortet er lachend: "Der 1. FC Köln" - und zeigt stolz sein T-Shirt des Kölner Fußballvereins. In seiner Arbeit als Integrationsmittler für den Verein BIKUP e.V. versucht Boro Mrkovic, Brücken zu bauen: kulturelle, sprachliche, gesellschaftliche. Nur wenn diese Brücken geschlagen seien, könne Integration und ein friedliches Miteinander funktionieren: in Deutschland wie auch in Europa.
Das Museum auf Tour
Auch die Pratzen von Boro Mrkovic sind im virtuellen Migrationsmuseum zu sehen, das vor einem Jahr gelauncht wurde. Seitdem tourt Sandra Vacca durch ganz Deutschland, in 18 Städten soll das Projekt präsentiert werden. Als Kind italienischer Migranten, geboren in Frankreich und seit zehn Jahren in Deutschland, liegt ihr das Thema sehr am Herzen: "Ich bin irgendwie ein Europa-Kind. Migration ist ein konstitutiver Teil der europäischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft, wir müssen mehr und anders darüber sprechen. Viele Migrantenkinder in der zweiten oder dritten Generation hören und sehen durch die Ausstellungsstücke zum ersten Mal die Geschichte ihrer Großeltern, denn oft wurde in diesen Familien nicht viel über die Vergangenheit, über die eigenen Migrationserfahrungen gesprochen. Deswegen ist es wichtig, dass wir durch die Interviews und Gegenstände diese Geschichten weitergeben können."
Ihr größter Wunsch: ein reales Museum zu kuratieren. Ausstellungsstücke gibt es im DOMiD zur Genüge. Die Gespräche mit der Stadt laufen derzeit. Das Interesse an so einem Migrationsmuseum ist riesig. Die Relevanz auch. Bis dahin kann man sich die Ausstellung auf der Seite des virtuellen Migrationsmuseums anschauen.