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"Extremismus": Vor dem neuen Urteil gegen Alexej Nawalny

Kirill Buketov
3. August 2023

Die Anklage fordert für Alexej Nawalny weitere 20 Jahre Haft in einer Strafkolonie unter strengen Bedingungen. Was ist das Besondere an dem Verfahren gegen den Oppositionellen und wie verlief der Prozess bisher?

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Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny während einer Gerichtsverhandlung
Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny während einer GerichtsverhandlungBild: Yulia Morozova/REUTERS

Die russische Justiz will Alexej Nawalny wegen "Extremismus" verurteilen. Der Prozess gegen den Oppositionellen fand vor dem Moskauer Stadtgericht hinter verschlossenen Türen statt. Doch die Anhörungen wurden auswärts in der Strafkolonie Nr. 6 in der Ortschaft Melechow, rund 250 Kilometer von Moskau entfernt, durchgeführt, wo sich Nawalny wegen einer Verurteilung in einem früheren Verfahren befindet.

Am 4. August soll verkündet werden, wie viele Jahre er zur jetzigen neunjährigen Haftstrafe hinzubekommt. Die Staatsanwaltschaft fordert 20 Jahre in einer Kolonie mit strengen Bedingungen, wohin besonders gefährliche Rückfällige, zu lebenslanger Haft Verurteilte sowie Personen kommen, deren Todesstrafe durch lebenslange Haft ersetzt wurde. Nawalny ist zum 17. Mal in Isolationshaft, aus der er bis zur Urteilsverkündung nicht entlassen werden soll.

"Nawalny zum ersten Mal wegen politischer Aktivitäten vor Gericht"

Leonid Wolkow von Nawalnys Team meint, dass mit dem "Extremismus-Verfahren" gegen den Oppositionellen ein Exempel statuiert werden soll. Daher rechne er mit einer harten Strafe. "Zum ersten Mal wird Nawalny aufgrund eines politischen Gesetzes, also wegen politischer Aktivitäten vor Gericht gestellt", betont er im DW-Podcast "DW Novosti Show". Die Besonderheit des neuen Falles liege in seinem ausschließlich politischen Charakter.

"Isolationshaft" - Leonid Wolkow bei einer Aktion zur Unterstützung von Alexej Nawalny vor der russischen Botschaft in Berlin
"Isolationshaft" - Leonid Wolkow bei einer Aktion zur Unterstützung von Alexej Nawalny vor der russischen Botschaft in BerlinBild: Emmanuele Contini/NurPhoto/IMAGO

Der erste größere Prozess, der sich über viele Jahre hinzog und mit fünf Jahren auf Bewährung endete, wurde Nawalny wegen Veruntreuung gemacht. 2009 soll er als Gouverneur der Region Kirow einen staatlichen Forstbetrieb dazu gebracht haben, Bauholz unter dem Marktpreis anzubieten. Später wurde er im Fall "Yves Rocher" wegen Betrugs und Geldwäsche zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, obwohl Vertreter des Unternehmens bestätigten, es sei keinerlei Schaden entstanden. Gemeinsam mit seinem Bruder Oleg hatte Nawalny den Versand für Produkte des französischen Kosmetikkonzerns organisiert. Im März 2022 wurde Alexej Nawalny schließlich wegen "Betrugs und Missachtung des Gerichts" zu neun Jahren Gefängnis verurteilt.

"Der Kreml hatte immer gesagt: 'Seht, er ist ein Betrüger ... Er ist nur ein Dieb.' Deshalb versuchten sie, diese Prozesse so weit wie möglich in Schauprozesse umzuwandeln. Nawalnys neuer Fall ist jedoch rein politischer Natur. Er wird lediglich wegen all seiner politischen Aktivitäten angeklagt, die der Kreml seit 2011 rückwirkend für extremistisch erklärt", so Wolkow.

Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch hält jedes mögliche Urteil von vornherein für rechtswidrig und den gesamten Fall für völlig erfunden. "Deshalb werden wir natürlich unser Bestes tun, um die ganze Welt darüber zu informieren", betonte sie im Gespräch mit der DW nach der ersten Verhandlung im Fall wegen "Extremismus".

Kira Jarmysch, Journalistin, Schriftstellerin und Sprecherin von Alexej Nawalny
Kira Jarmysch, Journalistin, Schriftstellerin und Sprecherin von Alexej NawalnyBild: Yevgeny Sofiychuk/dpa/picture-alliance

Im jetzigen Verfahren gegen Nawalny, das 196 Ordner umfasst, geht es um Verstöße gegen mehrere Artikel des Strafgesetzbuches. So soll er eine "extremistische" Organisation geschaffen haben. Dieser Vorwurf bezieht sich auf seine Anti-Korruptions-Stiftung (FBK) und sein Büro. Zudem soll er "öffentlich zu extremistischen Aktivitäten" aufgerufen haben. Hier wird Nawalny aufgrund Aussagen Dritter angeklagt. Weiter wird ihm "Wiederbelebung des Nationalsozialismus" und die "Beteiligung Minderjähriger an lebensgefährlichen Aktionen" zur Last gelegt. Dies steht im Zusammenhang mit seinen Aufrufen zu Kundgebungen. Nawalny bekam nur zehn Tage Zeit, sich mit dem gesamten Material vertraut zu machen.

Wie verlief der Gerichtsprozess wegen "Extremismus"?

Laut Kira Jarmysch will die russische Justiz den Prozess wegen "Extremismus" aufgrund des "Mangels an Beweisen" so geräuschlos wie möglich durchführen. Und Leonid Wolkow meint: "Der Kreml wird alles tun, um sicherzustellen, dass keine Informationen nach außen dringen."

So wurde die Vorverhandlung zunächst vom 31. Mai auf den 6. Juni verschoben. Dann wurde der Prozess vom Moskauer Stadtgericht in die Strafkolonie verlegt, wo Nawalny einsitzt. Nach der Vorverhandlung hieß es, die erste Verhandlung am 19. Juni werde öffentlich sein. Auch die Presse sollte den Gerichtssaal auf dem Gebiet der Strafkolonie betreten können. Doch am 16. Juni wurde bekannt, dass die Journalisten nur in einem speziellen Raum eine Übertragung der Verhandlung verfolgen können. Beim letzten Prozess gegen Nawalny brach diese aber immer wieder ab und bei seinem Schlusswort wurde sie ganz abgeschaltet.

Da der Prozess wegen "Extremismus" hinter verschlossenen Türen lief, wurden Einzelheiten nur durch Prozessbeteiligte bekannt. Die wichtigsten Informationsquellen waren Zeugen der Verteidigung, die den Anhörungen per Videoschaltung beiwohnten. Zu ihnen gehören der ehemalige Moskauer Stadtabgeordnete Alexej Gorinow sowie die oppositionellen Politiker Wladimir Kara-Mursa und Ilja Jaschin, die bereits wegen politischer Vorwürfe verurteilt worden waren.

Oppositionsaktivist Ilja Jaschin im November 2022 in Moskau vor Gericht
Oppositionsaktivist Ilja Jaschin im November 2022 in Moskau vor GerichtBild: Alexander Zemlianichenko/AP Photo/picture alliance

So schrieb Jaschin auf Telegram: "Letzten Mittwoch wurde ich vom Gefängnis per Video direkt mit dem Prozess gegen Nawalny verbunden. Er hatte beantragt, mich als Zeugen zu vernehmen, was der Richter genehmigte. Im Grunde genommen führte Alexej selbst die Vernehmung, die stellenweise lustig war."

Bei der "Vernehmung" von Ilja Jaschin stellte sich heraus, dass Alexej Nawalny vorgeworfen wird, seine Teilnahme an Wahlen sei nur ein Vorwand für eine Machtergreifung gewesen. "Ilja, aus der Anklageschrift geht hervor, dass ich 2013 für das Amt des Bürgermeisters von Moskau aus extremistischen Motiven heraus kandidiert habe, um Hass gegen die Regierung zu schüren und sie zu stürzen. Ist Dir etwas darüber bekannt?", fragte Nawalny Jaschin, worauf dieser antwortete: "Ein Sturz der Regierung durch Wahlen? Hmm ... Soweit ich mich erinnere, warst Du als Kandidat zugelassen, der von einem Drittel der Wähler unterstützt wurde. Laut Logik der Staatsanwaltschaft müssten zusammen mit Dir das gesamte Wahlkomitee und Hunderttausende Moskauer vor Gericht stehen." - "Gib dem Staatsanwalt keine Tipps!", gab Nawalny ironisch zurück. Wie Jaschin später auf Telegram über diese Episode des Prozesses schrieb, sei Nawalny "trotz aller Schikanen und Karzer munter und in guter Verfassung".

Lied eines Rappers als "Beweis"

Zu den "Beweisen" im Verfahren wegen "Extremismus" führte die Anklage das scherzhafte Lied "Nawalny Ljocha" des russischen Rappers Morgenstern an. "Ljocha" ist ein liebevoller Spitzname für den russischen Namen "Alexej". Der Musiker trug sein Lied noch vor den letzten Präsidentschaftswahlen 2018 vor, zu denen Alexej Nawalny nicht zugelassen wurde. Nawalny las den Text des Liedes im Gerichtssaal vor. "Zuerst begann die Sekretärin zu lachen, als sie begriff, um was es ging, dann die Gerichtsvollzieher. Als wir zu den Worten 'Nawalny Ljocha, ej' kamen, lachte auch der Richter", schrieb schrieb Nawalny auf seinen Kanälen in Social Media und bemerkte ironisch: "Nun, ein ziemlich starker Beweis dafür, dass ich, wie die Anklage sagt, einen gewaltsamen Sturz Wladimir Putins geplant habe."

Oppositionsaktivist Wladimir Kara-Mursa im Oktober 2022 in Moskau vor Gericht
Oppositionsaktivist Wladimir Kara-Mursa im Oktober 2022 in Moskau vor GerichtBild: Sergei Bobylev/TASS/picture alliance/dpa

Nicht nur Nawalny und Mitglieder seines Teams, sondern auch Zeugen betonen immer wieder, der ganze Prozess sei absurd. So verglich Wladimir Kara-Mursa, der wegen Hochverrats zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, das Geschehen mit Kafkas "Prozess" und zitierte Nawalny, der bei seiner "Vernehmung" von Zeugen während des Prozesses sagte: "Nur in unseren Gerichten kann ein Extremist [Nawalny, Anm. d. Red.] einen Vaterlandsverräter [Kara-Mursa] als Zeugen benennen."

Bei Nawalnys Schlusswort durften weder Journalisten noch Zuhörer dabei sein. Deshalb baten Nawalnys Mitarbeiter bekannte russische Musiker, Künstler und Wissenschaftler, dieses vorzutragen. Ein entsprechendes Video nahmen die Sängerin Lisa Monetotschka, der Schauspieler Dmitrij Nasarow, der Regisseur Andrej Swjaginzew, der Ökonom Sergej Gurijew und andere Kulturschaffende und Prominente auf. Alexej Nawalny betont darin, jeder müsse etwas opfern, damit "ein neues Land entsteht". Er erinnert auch an die Worte des sowjetischen Literaturwissenschaftlers Jurij Lotman, dass sich Menschen im Leben immer auf zwei "Beine" stützen sollen: Gewissen und Intellekt. "Da es sich nicht auf das Gewissen stützen wollte, hat mein Russland mehrere große Sprünge gemacht und dabei alle um sich herumgeschubst, aber dann rutschte es aus und brach - alles um sich herum zerstörend - mit Lärm zusammen," zitiert ihn Nawalny.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk