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Politik

EU-Rechtsstaatsstreit: "Unionsrecht hat Vorrang"

15. März 2021

In der Europäischen Union bricht europäisches Recht nationales Recht, sagt der renommierte Jurist Armin von Bogdandy. Das haben Polen und Ungarn im Vertrag von Lissabon klar anerkannt.

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Demonstranten protestieren gegen Justizwechsel in Danzig
Gdansk / Danzig, 18.12.2019: Protest mit polnischen und Europa-Fahnen gegen die Justizreform der Regierung PolensBild: picture-alliance/NurPhoto/M. Fludra

Der Streit um die Rechtsstaatlichkeit in Europa geht weiter. Auf dem ΕU-Gipfel im Dezember 2020 erzielte Brüssel einen Kompromiss mit Budapest und Warschau. Seitdem kann die EU-Finanzmittel für Mitgliedsstaaten kürzen, wenn dort Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit die Interessen der Union ernsthaft beeinträchtigen. Polen und Ungarn klagen jetzt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen diese "Rechtsstaatsklausel".

Tatsächlich geht es um eine neue Episode in dem Konflikt zwischen EU-Zentrale und europäischer Peripherie um tiefere Dimensionen, die die Existenz der EU und die Grundlagen ihres Rechtssystems berühren, meint Prof. Dr. Armin von Bogdandy, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und Professor für öffentliches Recht an der Universität Frankfurt am Main, im Interview mit der DW.

DW: Herr Professor, seit einigen Jahren findet eine kontroverse Reform der polnischen Justiz statt. Ist das gefährlich für Polen und den Rest der EU?

Armin von Bogdandy: Die Justizreform ist gefährlich für Polen, weil es dort um die freiheitliche Demokratie geht. Freiheitliche Demokratie bedeutet, dass es "Checks and Balances" gibt. Damit ist es nicht mehr weit her, wenn es keinen unabhängigen Schutz gegen die Regierung mehr gibt.

Gerichtsszene in London
London, 1.10.2012: Richter Lord Neuberger (r.) wird als Vorsitzender des englischen Obersten Gerichts vereidigtBild: picture alliance/empics/J. Stillwell

Es gibt eine schöne Aussage von einem berühmten englischen Richter, Lord Neuberger: "Wenn man den Leuten erstmal das Recht genommen hat, ihre Regierung vor Gericht zu verklagen, dann lebt man in einer Diktatur." So weit ist Polen noch nicht, aber diese Entwicklung ist kritisch für Polen und für Europa. Wenn wir Mitgliedsstaaten haben, die keine freiheitliche Demokratie mehr sind, dann können wir unser bisheriges Selbstverständnis nicht aufrechterhalten.

Die Zusammenarbeit in Europa beruht zudem darauf, dass die Mitgliedsstaaten allesamt freiheitliche Demokratien sind. Nur dann kann man Urteile aus anderen Staaten einfach vollstrecken und sensible Informationen austauschen. Weiter gibt es ein Schutzversprechen der EU gegenüber den polnischen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, die von ihrer Regierung in Bedrängnis gebracht werden.

In Polen sagen Regierungsmitglieder, dass Fragen der internen Organisation der Justiz der nationalen Zuständigkeit unterlägen, Polen also an dieser Stelle nicht an europäisches Recht gebunden sei. Welche Rechtsordnung hat Vorrang?

Die Aussage der polnischen Regierung ist schlicht falsch. Nach Artikel 2 des EU-Vertrags gelten die europäischen Werte. Diese Werte binden die Mitgliedsstaaten bei allem, was sie machen, also auch bei einer Justizreform.

Polen ratifiziert den Lissabon-Vertrag - Präsident Lech Kaczynski
Warschau, 10.10.2009: Polens damaliger Präsident Lech Kaczyński (1949-2010) ratifiziert den Lissabon-Vertrag Bild: Jacek Turczyk/dpa/picture alliance

Die einzige Frage, die man hier stellen kann, ist, ob der EuGH eine Kompetenz hat, darüber Urteile zu sprechen oder ob diese Werte nur über ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags durchgesetzt werden können, also letztlich nur durch den Europäischen Rat. Aber meines Erachtens sprechen viele gute Argumente dafür, dass der EuGH die Kompetenz hat, dazu Urteile zu sprechen.

Welches Recht hat Vorrang? Auch das ist ganz klar. Das Unionsrecht hat Vorrang. Das ist seit 1963 ständige Rechtsprechung. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Dieser Vorrang ist mit dem Vertrag von Lissabon ausdrücklich anerkannt worden - und Polen hat ihn unterschrieben.

Einige Politiker in Polen haben in den letzen Jahren auch die allgemeine Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs offen in Frage gestellt. Wie ernst sollte die EU das nehmen?

Das sollte man sehr ernst nehmen. Es ist ein echter Machtkampf, wo es um grundsätzliche Dinge geht. Und wenn man diese Infragestellung durchgehen lässt, dann ist das ein großer Rückschlag für die freiheitliche Verfasstheit in Europa.

EU-Erweiterung, Feier zum Beitritt von Polen
Warschau, 1.5.2004: Bürgerinnen und Bürger feiern den Beitritt Polens zur EUBild: picture-alliance/dpa

In Polen kritisieren Viele Deutschland wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVG) zur Europäischen Zentralbank (EZB). Sie meinen, dass sich auch das BVG an dieser Stelle dem EuGH widersetzt hat. Wird da möglicherweise mit zweierlei Maß gemessen?

Dieses Urteil des BVG ist ein schreckliches Fehlurteil. Es ist leider nicht so, dass es in nur Polen Probleme gibt. Allerdings haben Probleme in Polen und auch in Ungarn ein anderes Ausmaß.

Die Besetzung von Richterposten mit "Parteisoldaten" der polnischen Regierungspartei PIS wird in Westeuropa heftig kritisiert. Sehen Sie es als problematisch, dass nun mit Prof. Dr. Stephan Harbarth ein ehemaliger stellvertretender CDU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag zum Präsidenten des BVG gekürt wird?

Man kann sich schon fragen, ob dieser Schritt in dieser Situation politisch geschickt war. Aber die Sache liegt völlig anders: Erstens wurde der neue Präsident des BVG mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt und mit sehr breiter Unterstützung aus der Opposition. In Polen hingegen wurden die Richter nur mit der Regierungsmehrheit gewählt.

Berlin Bundespräsident entlässt und ernennt Verfassungsrichter Steinmeier und Harbarth
Berlin, 22.06.2020: Bundespräsident Steinmeier (l) ernennt Stephan Harbarth zum neuen BVG-PräsidentenBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Zweitens nimmt niemand an, dass Stephan Harbarth als Richter ein Instrument der Regierungsmehrheit sein würde. Man kann sicher sein, dass er ein unabhängiger Richter sein wird.

Drittens gibt es in der Bundesrepublik keinerlei Strategie, mit der die Unabhängigkeit der Justiz beschränkt werden soll. In Polen hingegen war die Verfassungsgerichtsbarkeit das erste Bollwerk des freiheitlichen Verfassungsstaates, das die Regierung schleifen wollte.

Wie beurteilen Sie den Kompromiss zwischen der EU, Polen und Ungarn für den ΕU-Haushalt im Dezember 2020? Können grundlegende Prinzipien wie die Achtung der Rechtsstaatlichkeit Gegenstand politischer Verhandlungen sein?

Die EU ist eine Kompromissmaschine - und das ist gut so. Man muss sich klarmachen, dass Kompromisse grundsätzlich etwas Wertvolles sind und nicht, wie oft die Medien vermitteln, etwas prinzipiell Problematisches und Schlechtes. Natürlich hätte ich mir mehr gewünscht und es wäre besser, wenn die Instrumente sofort zur Anwendung hätten kommen können.

Belgien I EU-Gipfel in Brüssel
Brüssel, 10.12.2020: Frankreichs Präsident Macron (gestikultiert) spricht beim EU-Gipfel mit Ungarns Premier Orbán (r.)Bild: picture alliance/dpa/Pool AP

Jetzt ist meines Erachtens wichtig, dass wir durch dieses Instrument die Fonds haben, um die Rezession anzugehen. Es kommt nun darauf an, dieses Instrument, sobald es da ist, vernünftig zu nutzen.

Ist Brüssel im Allgemeinen gegenüber Polen und Ungarn in den letzen Jahren auf dem richtigen Weg? Wie effektiv sind die Kontrollen und Warnungen der EU?

Brüssel ist jetzt gegenüber Polen und Ungarn in der richtigen Richtung unterwegs, auch wenn die Reise mühsam und arg langsam und vielleicht zu langsam ist. Aber Geld ist ein starker Hebel. Ob es effektiv eingesetzt werden wird, das wird die Zukunft zeigen. Es wird auf jeden Fall effektiv sein für das Selbstverständnis der EU. Und es ist auch relevant für die polnischen Unionsbürger, die sich gegen ihre Regierung stellen.

Ich kooperiere mit jungen Rechtswissenschaftlern aus Polen, die gegen die Situation in ihrem Land arbeiten. Ich habe ihnen mal gesagt: "Ihr seid wirklich sehr mutig, ihr habt keine festen Stellen, ihr seid im Aufbau eurer Karriere." Als Antwort bekam ich: "Wir sind nicht mutig. Aber wir haben keine Angst, weil wir wissen, das wir das Richtige tun." Dass ist ein republikanischer Geist, von dem ganz Europa lernen kann.

Ungarn Budapest | Proteste gegen Regulierung der Theater
Budapest, 9.12.2019: Protest gegen die Politik von Premier Orbán mit den Fahnen Europas und UngarnsBild: AFP/A. Kisbenedek

Wie nah ist heute Viktor Orbáns Ungarn an den europäischen Grundprinzipien, wenn seit Jahren Menschenrechtsverletzungen, Verstöße gegen die Pressefreiheit und Eingriffe in die Justiz wie in Polen beobachtet werden?

Die Situation in Ungarn ist anders als die in Polen - und schlimmer. Das liegt daran, dass in Ungarn fast alles mit dem Mantel der formalen Rechtsstaatlichkeit geschehen konnte, weil Orbán mit verfassungsändernder Mehrheit eine ihm entsprechende Verfassung in Kraft setzen konnte.

Viele kundige Beobachter sehen den Abbau von demokratischer Rechtsstaatlichkeit in Ungarn als weiter fortgeschrittener an als in Polen. Natürlich, Ungarn und Polen sind nicht die Türkei, nicht Russland, nicht die Ukraine. Aber die Situation ist gleichwohl sehr kritisch.

Deutschland Max-Planck-Institut Armin von Bogdandy
Bild: Creative Commons

 

Prof. Dr. Armin von Bogdandy ist Träger des Leibniz-Preises, des Preises der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für herausragende wissenschaftliche Leistungen, des "Premio Internacional 'Hector Fix Zamudio'" und des "Gerichtshammers" des interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

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Dimitra Kyranoudi Autorin, Reporterin, Redakteurin DW Griechisch