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Politik

Die EU verstehen - mit Hilfe von Ghana

Visual Journalism Team
30. Mai 2019

Die Europäische Union verändert sich - auch durch den Brexit. Wir wagen deshalb ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn die EU für Großbritannien ein afrikanisches Land aufnähme? Zum Beispiel Ghana? Würde das funktionieren?

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Ghana goes EU article picture

Dies ist ein Gedankenspiel: In unserem Experiment ersetzen wir G-roßbritannien buchstabengetreu durch G-hana.

Eddy Micah Jr., DW-Journalist aus Ghana, hätte auch schon ein paar Ideen, was sein Heimatland in einem solchen Szenario der EU beisteuern würde:

"Braucht die EU ein neues Mitglied?"

Die Skepsis von Eddy ist nicht unbegründet: Auch in den Mitgliedsstaaten hat die EU nicht das beste Image - bürokratisch und schwerfällig, zunehmend abgeschottet, alles andere als volksnah. Großbritannien hat sich schließlich auch für einen Austieg aus der EU, den Brexit, entschieden.

Auf der anderen Seite gilt die EU als Garant für Sicherheit und Wohlstand. Bevor ein Land wie Ghana davon profitieren kann, müssten zum einen die Ghanaer für einen Beitritt, ihren "Ghentry" sozusagen, stimmen. Zum anderen muss ein Beitrittskandidat vier Kriterien erfüllen:

Wie wird ein Land EU-Mitglied?

Wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind und Ghana Mitglied wäre, begänne Brüssels Macht dort, wo die von Accra aufhört: an den Landesgrenzen.

In Angelegenheiten, die ein Land auf nationaler oder lokaler Ebene effektiv allein regeln kann, darf die EU sich nicht einmischen. Umgekehrt gilt: die Union übernimmt dann das Kommando, sobald eine Aufgabe zu groß ist für ein einzelnes Land oder mehr erreicht werden kann, wenn alle Unionsmitglieder an einem Strang ziehen.

Dass Ghana - auch ohne EU-Mitgliedschaft - noch ungenutztes Potenzial hat, kann auch Eddy Micah Jr. bestätigen:

"Ghana hat noch einen langen Weg vor sich."

Nach erfolgreichem Beitritt kommt ein neues EU-Mitgliedsland in den Genuss vieler Vorteile, die die europäische Staaten-Union bietet:

FREIZÜGIGKEIT – Bessere Löhne in der EU?

Ghanas Arbeitslosenquote ist mit 2,4 Prozent deutlich geringer als die der meisten EU-Länder. Allerdings können viele Ghanaer nicht von ihrer Arbeit leben: Der  Durchschnittslohn je Stunde liegt bei nur 1,17 Ghana Cedi (entspricht etwa 0,20 US-Dollar oder 0,22 Euro). Selbst die niedrigsten Mindestlöhne Europas betragen mehr als das zehnfache.

Wer in Ghana keine zufriedenstellende Arbeit findet, könnte es in unserem Szenario einfach in einem anderen EU-Land versuchen. Will Ghana die Abwanderung von Arbeitskraft verhindern, müssten Arbeitgeber konkurrenzfähige Gehälter zahlen. So könnte eine Mitgliedschaft in der EU auf Dauer die ghanaischen Löhne  nach oben ziehen.

BILDUNG – Studieren in Kumasi und Bologna

Mit dem EU-Austauschprogramm "Erasmus+" können Studierenden, Auszubildenden und Lehrenden einen Teil ihrer Ausbildung in einem anderen EU-Land absolvieren. Außerdem zahlen sie keine Studiengebühren, bekommen Taschengeld von der EU und können sich ihre Kurse anrechnen lassen.

Ohne Erasmus-Stipendium schwanken die Kosten für ein Studium in der EU: Von komplett kostenlos, wie etwa in Schweden oder Dänemark, bis zu ein paar tausend Euro pro Semester etwa in Italien oder Spanien. So teuer wie die Studiengebühren in den USA ist Bildung in Europa nur selten.

Bei der europäischen Leidenschaft für Bildung kann Ghana mindestens mithalten: Das Land gibt 20 Prozent seines Regierungsbudgets für Bildung aus – einer der höchsten Anteile weltweit, und weit mehr als irgendein EU-Land.

WIRTSCHAFTLICHE SOLIDARITÄT – Geben und Nehmen

Die Mitglieder, denen es wirtschaftlich gut geht, zahlen für die, die Unterstützung brauchen. Wer wie viel Geld zahlt oder wofür es ausgegeben wird, ist unter den EU-Staatschefs oft heiß diskutiert.

Würde Ghana der EU beitreten, müsste es jährlich ca. ein Prozent des Bruttonationaleinkommens, einen Teil der eingenommenen Mehrwertsteuer und einige Zollabgaben an die EU zahlen. Im Gegenzug könnte das Land dann in den ersten Jahren mit einer ganzen Menge an Fördergeldern rechnen. Wächst die Wirtschaft Ghanas aber weiterhin so stark, wie sie das selbst ohne EU-Mitgliedschaft schon tut, könnte sich das aber mit der Zeit ändern. Ghana müsste dann, genau wie die anderen Nettozahler der EU, zum Beispiel die abgelegenen Gegenden Finnlands mit unterstützen.

BINNENMARKT – Ghanaische Schokolade für die EU?

Ghana ist der weltweit zweitgrößte Kakaoproduzent – und Europa schon jetzt der größte Abnehmer. Fertig produzierte ghanaische Schokolade hingegen findet ihren Weg nur selten in europäische Supermärkte. Der Grund ist ein finanzieller: Während Ghana Kakaobohnen schon jetzt zollfrei in die EU exportieren kann, gilt auf Bruchschokolade eine Steuer von 15 Prozent des Warenwertes.

Wäre Ghana jedoch EU-Mitglied, wäre es automatisch auch Mitglied des europäischen Binnenmarktes, in dem Waren zollfrei die Grenzen überqueren können. So kämen europäische Zungen in den Genuss von dunkler ghanaischer Schokolade mit Meersalz.

SUBVENTIONEN – Wirtschaft stärken und schwächen

Wie wirkungsvoll – im positiven wie im negativen – eine Wirtschaftsunion wie die EU sein kann, zeigt sich auch an Subventionen, denn die Konsequenzen reichen bis nach Ghana. Beispiel: Geflügelzucht.

Der ghanaische Markt ist angesichts von Importen aus dem Ausland nahezu zusammengebrochen. Denn Subventionen – etwa für Tierfutter – erlauben europäischen Landwirten günstiger zu produzieren und das Fleisch zu einem geringeren Preis anzubieten: ein ghanaisches Hühnchen kostet den Kunden bis zu vier Mal so viel wie ein importiertes.

Wäre Ghana Mitglied in der EU, könnte Accra sich für eine verträglichere EU-Exportpolitik einsetzen. Ganz pragmatisch würde es bedeuten, dass auch Ghanas Geflügelzüchter Subventionen bekäme.

Von einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit würden beide Seiten profitieren, sagt DW-Journalist Eddy Micah Jr.:

"Wir wollen einen fairen Zugang zum Wettbewerb."

UNION geht auch ohne Europa

Am Ende braucht Ghana nicht EU-Mitglied werden, um die Vorteile einer Staaten-Union zu genießen. Ghana war 1963 eines der Gründungsmitglieder der Organisation für Afrikanische Einheit, aus der knapp 50 Jahre später die Afrikanische Union (AU) hervorging. Heute sind alle afrikanischen Nationen Mitglied. Vereint in Vielfalt will die AU die Stimme Afrikas in der Welt sein, die Zusammenarbeit zwischen den afrikanischen Staaten fördern, Frieden und Demokratie sichern – das afrikanische Äquivalent dazu, was die EU für Europa darstellen will.

Fast die Hälfte der Ghanaer finden,dass die AU ihrem Land geholfen hat – die Europäer sehen das  im Schnitt für ihr Land in der EU ähnlich. Das bedeutet aber auch: Die andere Hälfte sieht das anders oder weiß nicht genug über die Arbeit von AU bzw. EU. Für beide Staatengemeinschaften heißt das also: Es gibt noch Luft nach oben. Doch das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit, findet Eddy Micah Jr.:

"Am Ende ist es Vielfalt, die uns vereint."