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Cricket als Integrations-Helfer in Deutschland

Thomas Gennoy
4. Oktober 2024

Für eine Gruppe afghanischer Flüchtlinge in Hamburg, die nach der Machtergreifung der Taliban aus ihrer Heimat geflohen sind, bietet Cricket einen Weg zur Integration.

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Geflüchtete aus Afghanistan spielen Cricket in Hamburg
Cricket hilft afghanischen Flüchtlingen, sich in Deutschland besser zurechtzufindenBild: Joseph Wright/DW

Mit Hilfe eines tragbaren Schlagnetzes und einigen robusten Holzbrettern verwandelt eine Gruppe junger Afghanen in Hamburg einen Kiesweg in einen brauchbaren Platz zum Cricketspielen. Das ist zwar nicht gerade die ideale Lösung, aber für den Moment reicht es.

Die Bewohner einer nahegelegenen Flüchtlingsunterkunft haben nur begrenzte Mittel, um ihrer Leidenschaft nachzugehen. Und obwohl ihre Sozialarbeiter nicht wussten, was Cricket eigentlich ist, hätten Noor Ahmad Wahidi und seine Freunde ohne deren Hilfe keine Chance gehabt.

Männer spielen Cricket
Cricket hat Spielern wie Nazir Ahmad Wahidi geholfen, sich in Deutschland besser zu integrierenBild: Joseph Wright/DW

Wahidi ist Kapitän der Neuland Lions, Hamburgs neuestem Cricket-Team. Die Mannschaft besteht aus Bewohnern des Neuland-Flüchtlingsheims. An diesem Tag feiern Noor und sein Bruder Nazir ein Jubiläum. "Auf den Tag genau ist es ein Jahr her, dass wir in Deutschland angekommen sind", erklärt Noor im DW-Interview.

Die Taliban-Herrschaft verändert alles

In Afghanistan ist Cricket die beliebteste Sportart und auch der Sport, in dem die afghanischen Sportler international am besten abschneiden. Doch seit der Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021 ist Frauen die Teilnahme an diesem Sport untersagt.

Für die beiden Brüder Noor und Nazir, die ihr Land nach der Machtübernahme verlassen mussten, ist die Cricket-Männermannschaft des Landes nach wie vor ihr ganzer Stolz. Und die beiden haben die Hoffnung auf ihre weiblichen Landsleute noch nicht aufgegeben. "Ich schaue mir alle Spiele meines Landes an. Ich liebe es, sie zu unterstützen", sagt Noor der DW und ergänzt: "Afghanistan ist das einzige Land, das Vollmitglied des Internationalen Cricket-Rates ist, aber keine Frauenmannschaft hat."

Frauen spielen in Afghanistan Cricket
Der Frauen-Cricket-Sport in Afghanistan machte einst große Fortschritte (Archivfoto aus dem Jahr 2013)Bild: Aref Karimi/AFP/Getty Images

Mit dem Cricket-Verbot für Frauen und damit der faktischen Auflösung der Frauen-Nationalmannschaft verstößt Afghanistans Verband gegen die Auflagen des Internationalen Cricketverbands (ICC). Laut ICC-Mitgliedschaftskriterien muss es auch ein Frauen-Team geben, wenn man Vollmitglied sein möchte. "Ich würde mich freuen, wenn wir diesen großen Schritt machen könnten", sagt Noor. Doch bisher hat der Weltverband nicht reagiert.

Cricket wächst in Deutschland

In Deutschland ist Cricket nach wie vor eine Nischensportart. Doch in den letzten Jahren hat es in dem Sport ein gewisses Wachstum gegeben, das vor allem durch Einwanderer aus Ländern wie Pakistan, Indien und Afghanistan vorangetrieben wurde. "Sie haben den größten Anteil daran", sagt Siegfried Franz, Präsident des Hamburger Cricket-Vereins, im DW-Interview. "Es ist fantastisch, dass sie hier sind und ihren Sport, mitgebracht haben."

'Siggi', wie er von den Spielern genannt wird, ist einer der wenigen Deutschen seiner Generation, denen dieser Sport sehr viel bedeutet. Zum ersten Mal kam er als junger Mann damit in Berührung, als er in einer Jugendherberge in Liverpool einige einheimische Studenten kennenlernte.

Als Sozialarbeiter aus der Flüchtlingsunterkunft in Hamburg Anfang 2024 Kontakt zu ihm aufnahmen, zögerte 'Siggi' Franz nicht, zu helfen. Zunächst besorgte er einige Ersatzplastikstöcke und -schläger, dann folgte eine größere Geld-Spende, die durch eine Sammlung unter den Kollegen von Cricket Hamburg zustande gekommen war.

"Ich weiß, wie es sich anfühlt, neu an einem fremden Ort zu sein, und so geht es auch diesen Jungs", sagt Franz. "Es ist toll, dass Cricket ihnen ein Zuhause gibt."

Interview-Situation mit Siegfried Franz, dem Unterstützer des Cricket-Sports in Deutschland
Siegfried 'Siggi' Franz ist einer der Hauptakteure für das Wachstum des Cricketsports in DeutschlandBild: Joseph Wright/DW

Auf Vorschlag von Franz wurden die Neuland-Löwen in den Harburger Turnerbund eingegliedert. Dadurch ist es dem Verein nun möglich, in den heimischen Ligen anzutreten. Sie haben bereits ihre ersten Spiele bestritten und die Aufmerksamkeit der lokalen Presse auf sich gezogen. "Das ist Integration", freut sich Franz. "Inder bilden Afghanen aus, alles von Deutschen aufgebaut."

Lektionen aus Deutschland

Der Sport hat den Mitgliedern der Neuland Lions einen Einblick in das Leben jenseits ihres Wohnheims ermöglicht. Und es hat ihnen auch die Möglichkeit gegeben, ein paar Lektionen über die gängigen Bräuche in ihrer deutschen Wahlheimat zu lernen. "Manchmal stören wir die Nachbarn, wenn wir den Ball schlagen. Dann schreien sie uns an, wir sollen aufhören, sonst würden sie die Polizei rufen", lacht Nazir.

"Deutschland ist ein seltsames Land, wenn es um Sport geht", meint Franz. "Alle wollen immer im Fernsehen zuschauen, regen sich aber auf, wenn vor der eigenen Haustür etwas passiert."

Die von manchen Menschen eingeforderte Ruhe am Sonntag ist nicht das Einzige, an das sich die Cricketspieler gewöhnt haben. Dank ihrer Begeisterung für den norddeutschen Dialekt scheinen die Neuland Lions bereits eine Art "Ehrenbürger von Hamburg" zu sein. "Du kommst abends zum Training, und alle Jungs sagen: 'Moin!'", berichtet Franz und freut sich: "Das ist der Lohn für die Arbeit, die ich mache."

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.