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WM oder Lebensgefahr - eine Geschlechterfrage

Matt Pearson
3. Oktober 2021

Während sich Afghanistans aufstrebendes Cricket-Team der Männer auf die Weltmeisterschaft vorbereitet, müssen die afghanischen Cricket-Frauen vor den Taliban fliehen. Viele werden vermisst. Die Zukunft sieht düster aus.

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Afghanistan | Frauen Cricket
Frauencricket in Afghanistan hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht - aber wie sieht die Zukunft aus? Bild: Aref Karimi/AFP/Getty Images

"Ich bin wütend auf diese Leute, die uns Flügel zum Fliegen gegeben haben, uns dann aber plötzlich die Flügel abschneiden und uns alleine lassen", sagt Tuba Sangar. Die Direktorin für Frauencricket beim Afghanistan Cricket Board (ACB) ist aufgebracht, als sie mit der DW über ihr Team und ihre Spielerinnen spricht, deren Schicksal nach der Machtübernahme durch die Taliban mehr als ungewiss ist.

"Die Taliban sollten uns unsere Rechte nicht verwehren. Sie sollten uns Sicherheit geben. Sie sollten uns versprechen, dass sie uns nicht verletzen werden, und sie sollten uns helfen, für Afghanistan zu spielen", fordert Sangar, die sich selbst nicht mehr in ihrer Heimat aufhält. Ihr war es Ende August gelungen zu fliehen. Mittlerweile ist sie in Kanada. Verwandte haben ihr berichtet, dass in Kabul bereits Beamte nach ihr gesucht hätten, doch niemand habe etwas über ihren Aufenthaltsort verraten.

Verbot des Frauensports

Aus dem Exil fürchtet Sangar nun um die Sicherheit ihrer Nationalspielerinnen und ihrer Mitarbeiter, von denen sie nicht weiß, wo sie untergetaucht sind. Durch ihr öffentliches Engagement für den Lieblingssport der Afghanen sind sie zur Zielscheibe geworden. "Ihr Leben ist in Gefahr. Sie wechseln ihren Aufenthaltsort, sie sperren ihre Telefonnummern und ich kann keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen. Das ist ein großes Problem", sagt Sangar. "Ich möchte ihnen einfach nur helfen und ich möchte, dass andere Länder auf meine Worte hören und meinem Team helfen, Afghanistan zu verlassen."

Sangar ist außerdem verzweifelt darüber, dass Lebensunterhalt, Freude und Hoffnung verloren gehen, sobald das zu erwartende Verbot des Frauensports durch die Taliban verhängt wird. Dabei sollte die Cricket-Frauenmannschaft doch eigentlich demnächst die große Bühne betreten. 25 Spielerinnen hatten im November 2020 Verträge beim Verband erhalten. Sie waren die ersten Frauen, die ihr Land offiziell in ihrem Sport vertreten sollten. Dass es noch dazu kommt, muss allerdings aufs Schärfste bezweifelt werden.

Afghanistans Männern droht das WM-Aus

"Ich glaube nicht, dass es Frauen erlaubt sein wird, Cricket zu spielen, weil es nicht notwendig ist, dass Frauen Cricket spielen", sagte der stellvertretende Leiter der Kulturkommission der Taliban, Ahmadullah Wasiq, kürzlich. Das ACB will sich derzeit nicht festlegen: "Wir werden Ihnen unsere klare Position dazu mitteilen, wie wir es Frauen erlauben werden, Cricket zu spielen. Sehr bald", sagte der Verbandsvorsitzende Azizullah Fazli vor mehr als zwei Wochen zum SBS Radio Pashto und spielte damit wohl auf Zeit - wohl auch um den WM-Einsatz des Cricket-Männerteams bei der T20-Weltmeisterschaft nicht zu gefährden, die am 17. Oktober in den Vereinigten Arabischen Emiraten beginnt. Zudem soll es ein prestigeträchtiges Testspiel gegen Cricket-Weltmacht Australien geben.

ICC Cricket World Cup | Pakistan vs. Afghanistan
Rashid Khan (Mitte) gehört zu den besten Spielern der Welt, hier bei der Weltmeisterschaft 2019Bild: Action Images via Reuters/L. Smith

Laut offiziellem Reglement des Internationalen Cricket-Verbands ICC müssen alle zwölf Vollmitglieder auch über eine Frauen-Nationalmannschaft verfügen. Afghanistan ist eines dieser Mitglieder. Hätte Afghanistan keine Frauenmannschaft mehr, müsste man es von der WM ausschließen. Während der ICC noch nicht Stellung genommen hat, gibt es vom australischen Verband Cricket Australia bereits eine Erklärung: "Sollten sich die jüngsten Medienberichte bewahrheiten, wonach der Frauen-Cricket-Sport in Afghanistan nicht unterstützt wird, hätte Cricket Australia keine andere Wahl, als das vorgeschlagene Testspiel in Hobart gegen Afghanistan nicht auszurichten", erklärte die Organisation Anfang des Monats.

"Mehr als ein Spiel"

Für Naveen ul-Haq wären ein Rückzieher Australiens und vor allem eine Sperre für die Weltmeisterschaft eine Katastrophe. In seinen Augen würden die Falschen bestraft. "Ich glaube nicht, dass die Männermannschaft darunter leiden sollte, dass Afghanistan keine Frauenmannschaft hat", sagte er der DW. "Die Welt muss verstehen, dass es Zeit braucht, bis sich die Dinge ändern und bis wieder Normalität einkehrt. Sie sollte Afghanistan in dieser schweren Zeit beistehen."

Der 22-Jährige gehört wie einige andere afghanische Nationalspieler zu den Besten der Welt in seinem Sport und spielt im Ausland. Während Kabul von den Islamisten eingenommen wurde und seine Landsleute versuchten, unter tragischen Umständen zu fliehen, spielte ul-Haq beim renommierten T20-Blast-Wettbewerb, war mit seinen Gedanken aber immer in der Heimat, wie er sagt. Es habe ihm "alles bedeutet", sein Land mit guten Leistungen auf dem Cricket Ground zu vertreten, sagte er der DW, schließlich sei Cricket für ihn und seine Landsleute "mehr als ein Spiel".

Cricket erlebt in Afghanistan beispiellosen Höhenflug

Tatsächlich ist Cricket in Afghanistan so beliebt wie in Deutschland der Fußball. Die Saat für die Begeisterung am ur-britischen Spiel mit Bat und Wicket wurde vor 20 Jahren in den afghanischem Boden gelegt, nachdem die Taliban aus dem Land vertrieben worden waren. Das Cricketspiel wurde vor allem von zurückkehrenden Flüchtlingen nach Afghanistan gebracht, die es im Exil in Pakistan kennen und lieben gelernt hatten.

Nach dem Regimewechsel wurde 2001 zunächst eine Männer-Nationalmannschaft gegründet und erlebte einen beispiellosen Aufstieg: Bereits neun Jahre nach seiner Gründung nahm das Team erstmals an einer Weltmeisterschaft teil. Heute ist Cricket in Afghanistan zweifellos die beliebteste Sportart im Land, einige der afghanischen Spieler gehören zu den Besten der Welt. Doch der Höhenflug endete im vergangenen Monat mit der Machtübernahme der Taliban schlagartig.

Ein Recht auf Cricket

"Cricket ist nicht nur ein Spiel mit Schläger und Ball. Es ist ein Spiel der Träume, besonders für Mädchen", sagt Tuba Sangar. "Aber im Moment gibt es keine Hoffnung mehr. Sie erlauben uns nicht, zu spielen. Wenn die Taliban Mädchen nicht erlauben, für ihre Grundbedürfnisse nach draußen zu gehen, wie wollen sie ihnen dann erlauben, Cricket zu spielen?"

Doch obwohl Sangar wütend auf das ACB ist und ein klares Statement für Frauen-Cricket fordert, ist auch sie der Meinung, dass die Männer nicht vom Wettbewerb ausgeschlossen werden sollten. Sie weiß: Auch männliche Spieler wie Naveen ul-Haq inspirieren afghanische Mädchen. "Es gibt einige Leute, die mit dem afghanischen Cricket Politik machen", fügte sie hinzu. "Aber Sport hat nichts mit Politik zu tun. Jeder hat das Recht, Sport zu treiben, insbesondere Cricket. Und ich hoffe, dass dieses Problem eines Tages gelöst werden kann."

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.