Chinas Weltordnung für das 21. Jahrhundert
30. Juli 2020Auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 2017 kündigte Chinas Präsident Xi Jinping eine "neue Ära" für sein Land an und dass sich die Volksrepublik "Tag für Tag der Mitte der Weltbühne nähere". Doch wie stellt sich China eigentlich eine Weltordnung vor, in der die Volksrepublik im Zentrum steht?
Dies Frage zu beantworten, sei nicht so einfach, sagt der Bonner Politologe Gu Xuewu vom Lehrstuhl für Internationale Beziehungen: "Mein Eindruck ist, die politischen Kräfte in Peking wissen selber auch nicht genau, was sie wollen", so Gu im Gespräch mit der DW. "Ich will damit sagen, sie experimentieren gemäß Deng Xiaoping." Deng Xiaoping, der in den 1980er Jahren Chinas Wirtschaftsreformen einleitete, hatte damals das Motto ausgegeben: "Von Stein zu Stein tastend den Fluss überqueren."
Primat des Machterhalts der KP
Die Unentschiedenheit spiegelt sich auch in den sehr vielschichtigen und differenzierten Diskussionen der Intellektuellen des Landes über Chinas Rolle in der Welt, wie der ehemalige deutsche Botschafter in Peking, Volker Stanzel, der DW bestätigt. Das Spektrum reiche von Akzeptanz der herrschenden globalen Ordnung bis hin zur Idee, dass China vom Schicksal auserkoren sei und sich die ganze Welt seinem Willen beugen müsse.
Bei aller Diskussion habe allerdings stets die Partei das letzte Wort, der es letztlich nicht um eine Weltordnung an sich gehe, so Stanzel: "Das heißt, wir sehen nicht wirklich ein originäres Interesse an einer anders gearteten Weltordnung oder am Funktionieren der gegenwärtigen Weltordnung, sondern es geht nur darum, dass sich China in der Welt so bewegen kann, dass die Vorstellungen der Kommunistischen Partei umsetzbar sind, die wiederum dem Machterhalt dienen."
Kernelemente der neuen Weltordnung
Nach Ansicht von Gu lassen sich trotzdem einige Kernelemente von Chinas Vorstellung ausmachen: "China wünscht sich eine Weltordnung, die machtpolitisch multipolar, methodisch multilateral und ideologisch pluralistisch ist." Gu erläutert die politologischen Fachausdrücke wie folgt:
- Multipolar ist eine Welt, die von mehreren Machtzentren dominiert wird; etwa den USA, China, Europa, Russland und vielleicht Indien.
- Multilateral ist eine Welt, in der kein Staat die weltweite Agenda bestimmt, sondern die Agenda zwischen den Machtzentren immer wieder neu ausgehandelt wird.
- Ideologisch pluralistisch soll heißen, dass es nicht nur eine weltweit akzeptierte Form der Regierung - etwa die liberale Demokratie - sondern verschiedene Regierungsformen gibt.
"Schicksalsgemeinschaft der Welt"
Der erste Punkt sei längst eine Tatsache, sagt Gu: "Wir leben bereits in einer multipolaren Welt." Eine Einschätzung, die viele andere Beobachter teilen: Demnach hat die multipolare Weltordnung die kurze Phase amerikanischer Hegemonie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks abgelöst, die auf die Blockbildung des Kalten Kriegs folgte.
Der Multilateralismus wird in China seit 2018 mit dem Schlagwort "Schicksalsgemeinschaft der Welt" verknüpft, das Xi Jinping höchstpersönlich erstmals am Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen in Moskau gebraucht hat. 2019 hielt Xi dann eine Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, auf der er dem Isolationismus eine Absage erteilte und China als Unterstützer des Multilateralismus positionierte.
Stanzel weist allerdings darauf hin, dass das Gerede von der "Schicksalsgemeinschaft der Welt" ein unbestimmter Gemeinplatz bleibt. "In einer globalisierten Welt hängt unser Schicksal nun mal zusammen. Das ist noch kein Konzept." Es müsste inhaltlich gefüllt werden, etwa mit einer Forderung nach einer Stärkung des internationalen Rechts oder internationaler Institutionen. Davon hält China freilich wenig und gleicht darin den USA, wie auch Gu feststellt: "Beide akzeptieren das internationale Recht, wenn es zu den eigenen Interessen passt, und lehnen es ab, wenn es ihren Interessen entgegensteht."
Imagekampagnen und Seidenstraße
Die Auseinandersetzung um eine ideologisch pluralistische Welt, in der das autoritäre Regime Chinas als gleichwertige Alternative zur liberalen Demokratie angesehen würde, ist seit Jahren im Gange. China will sein Image aufbessern. Konfuzius-Institute verbreiten seine Sprache und Kultur. Chinesische Investoren kaufen ganze Medienunternehmen in Afrika auf und prägen die Wahrnehmung Chinas mithilfe der sozialen Medien oder durch die Beeinflussung von Auslandschinesen.
Auch in den Vereinten Nationen ist China engagiert, wie Stanzel erklärt: "China hat den Vorsitz von vier internationalen Institutionen, doppelt so viel wie die Amerikaner, und nutzt nicht nur diese Stellung, sondern auch seine Aktivitäten in diesen Institutionen, um die eigene politische Sprache in UN-Dokumenten zu verankern."
Allerdings fällt die Bilanz bezüglich der Aufbesserung von Chinas Image bzw. der Etablierung eines neuen, chinesisch geprägten Narrativs gemischt aus. "In Afrika hat dieses Narrativ Erfolg. Je stärker ein afrikanischer Staat mit China wirtschaftlich verbunden ist, desto erfolgreicher ist China", sagt Stanzel. In Deutschland und anderen Industrienationen habe sich das Image, auch durch die teilweise rabiate Diplomatie der vergangenen Monate, aber verschlechtert.
Insbesondere die Inhaftierung und Umerziehung von Hunderttausenden Uiguren in Xianjiang und die massive Einschränkung der Freiheit Hongkonger Bürger habe in Europa und den USA das Misstrauen gegenüber China vertieft.
Auch das Projekt "neue Seidenstraße" (Belt and Road Initiative, BRI), anfänglich als weltgrößtes Infrastrukturprojekt bewundert, wird inzwischen vielfach kritisch betrachtet. Insbesondere wirtschaftlich schwächere Länder begeben sich in eine massive Abhängigkeit von China. Ein bekannter Fall ist Sri Lanka, das, nachdem es die Kredite nicht mehr bedienen konnte, den Tiefseehafen und das umliegende Land in Hambantota für 99 Jahre an ein chinesisches Staatsunternehmen verpachten musste.
Vormachtstellung in Asien
Gu spricht von einem Wahrnehmungsproblem in Europa und den USA. Er glaubt nicht, dass China die globale Führungsrolle für sich beansprucht. Die chinesischen Ambitionen würden erheblich überschätzt. "Wer führen will, muss in der Lage sein, allgemeine Güter kostenlos zur Verfügung zur stellen und einen gewissen missionarischen Eifer haben, um bestimmte Vorstellungen global durchzusetzen zu wollen." Das habe China nicht. "China will die USA nicht ersetzen, ja hat sogar Sorge davor, derartige Aufgaben zu übernehmen."
Aber selbst wenn China nicht den Status eines globalen Hegemons anstrebt, gibt es in Peking zweifellos die Vorstellung, dass China zumindest in Asien eine Vormachtstellung gebührt. Bereits 2014 hielt Xi eine Rede, in der er forderte: "Asien den Asiaten". Nimmt man die an die ASEAN-Staaten gerichtete Aussage von Chinas Außenminister Yang Jiechi von 2010 hinzu, wird klar, was das bedeutet: "China ist ein großes Land und andere Länder sind klein. Das ist schlicht eine Tatsache."
Chinas Anspruch wird nirgendwo deutlicher als im Südchinesischen Meer. Die Volksrepublik versucht nicht nur die USA aus der Region zu drängen, sondern auch die Nachbarstaaten sowie wichtige Schifffahrtsrouten und Rohstoffe unter seine Kontrolle zu bringen. Die Folgen für die Staaten der "Peripherie": Instabilität, den wachsenden Druck, sich für eine Seite - in diesem Fall China oder USA - zu entscheiden, und die Gefahr einer militärischen Konfrontation.
Weltanschauliche Differenzen
Die entscheidende Frage lautet schlussendlich, ob der Aufstieg Chinas und die damit einhergehenden Verschiebungen in der Weltordnung zwangsläufig zu einem Krieg führen müssen. Die Auseinandersetzungen in Asien und im Südchinesischen Meer seien da nur ein Vorgeschmack, wie viele Experten glauben. Schon 2014 schrieb der amerikanische Politologe John J. Mearsheimer in "The National Interest": "Das Ergebnis wird ein intensiver Sicherheitswettbewerb mit erheblichem Kriegspotenzial sein. Kurz gesagt, der Aufstieg Chinas wird wahrscheinlich nicht ruhig verlaufen". Ming Xia von der City University of New York sagte der DW: "Ich glaube nicht an eine Koexistenz von China und dem Westen, wenn China das eigene System beibehält."
Ein Ausweg wäre es, letztlich einen philosophisch-weltanschaulichen Konflikt anzuerkennen, sagt der Bonner Politologe Gu. Zwar sei China politisch gesehen ein westlicher Staat und die Partei halte am Konzept des Nationalstaats und Nationalismus fest, aber im Kern stünden sich eine individualistische und eine kollektivistische Weltanschauung gegenüber. Im Westen soll der Einzelne vor dem Zugriff des Staates geschützt werden, deswegen stehen die Menschenrechte im Zentrum. In China dagegen soll der Einzelne seinen Beitrag für die Gesellschaft leisten, hier könnte man von Menschenpflichten sprechen.
Eine Annäherung hält Gu trotz dieser Grunddifferenz für vorstellbar, denn in der konfuzianischen Tradition gebe es beim Gelehrten Menzius beispielsweise ein Recht auf Widerstand gegen den Staat. Umgekehrt hat der ehemalige US-Präsident John F. Kennedy in seiner berühmten Antrittsrede von 1961 gefragt: "Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann - fragt, was ihr für euer Land tun könnt." Hier geht es um die Pflicht der Bürger.
Einen Dialog auf dieser Ebene hält Gu allerdings für wenig wahrscheinlich: "Hier bin ich sehr pessimistisch. Ich glaube nicht, dass die Amerikaner bereit sind, die chinesische autoritäre kommunistische Regierung zu akzeptieren." Auch Stanzel ist, wenn auch aus anderen Gründen, skeptisch, was eine Verständigung zwischen beiden Seiten betrifft. Zwar wolle die KPCh keinen Krieg führen. Aber die Gefahr eines militärischen Konflikts wachse "durch das offensiv aggressive Verhalten Chinas", wie es sich unter anderem im Südchinesischen Meer zeigt.