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Die orchestrierte Wut

11. Januar 2022

Zehntausende Menschen sind in Deutschland am Montag gegen die Corona-Politik auf die Straße gegangen. In Freiberg in Sachsen werden die Proteste seit Monaten immer aggressiver.

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Deutschland Freiberg | Corona Protest
Ausnahmezustand im sächsischen Freiberg: Jeden Montag versammeln sich hunderte Menschen trotz VersammlungsverbotBild: Hans Pfeifer/DW

"Ich würde mich an eurer Stelle selber erschießen!", brüllt eine aufgebrachte Frau. Immer wieder. Vor ihr steht Schulter an Schulter eine Kette aus Polizisten mit Helm und Schlagstock. Mannschaftswagen der Polizei haben die Straße abgeriegelt. Einhundert Beamte sind im Einsatz. Für die Teilnehmenden der Corona-Proteste gibt es an dieser Stelle kein Durchkommen. Hass und Gewalt eskalieren. Ein Mob aus dutzenden Männern versucht die Straßensperre zu durchbrechen und die Polizei zu überrennen. Es kommt zu Rangeleien.

Es ist Montagabend in Freiberg. Und immer wieder montags versammeln sich in der kleinen sächsischen Universitätsstadt hunderte Menschen, um gegen die aktuelle Corona-Politik zu protestieren. Freiberg ist zu einem deutschen Hotspot des Protestes geworden. "Spaziergänger" nennen sie sich. Sie fordern ein Ende der pandemiebedingten Beschränkungen. Und sie demonstrieren gegen eine mögliche Impfpflicht. An diesem Montag treffen sich bis zu eintausend Menschen und ziehen durch die Straßen.

Die Proteste sind verboten. Denn angesichts der hohen Infektionszahlen dürfen sich in Sachsen derzeit maximal zehn Menschen versammeln. Die Demonstranten haben aus dem Verbot ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei gemacht. Kleine Grüppchen treffen sich verstreut rund um einen Park in der Freiberger Innenstadt. Auf Trillerpfeifenkommandos und Absprachen hin setzen sie sich dann in Bewegung und schließen sich zusammen. Wird der Widerstand der Polizei größer, verteilen sie sich schnell wieder. Überall in den Straßen sieht man unruhige Grüppchen von meist jungen Männern, die das Spiel anheizen.

Rechtsextreme Strippenzieher

In den Sozialen Medien verkaufen sie sich als Nachbarschaftsprotest der wütenden und besorgten Bürgerinnen und Bürger der Stadt. Die laufen zwar auch mit. Aber der Aufmarsch an diesem Montag wird dominiertvon bulligen Männern, die rechtsextreme Szenekleidung und Hooligan-Outfits tragen. "Viele von denen kommen nicht aus Freiberg und sind extra angereist", beobachtet Astrid Ring. Die Journalistin berichtet seit Monaten für die Freie Presse Freiberg über die Proteste. "Heute ist die Stimmung besonders aggressiv." Sie ist gemeinsam mit einem Fotografen der Zeitung unterwegs. Er wird immer wieder mit Böllern beworfen. Astrid Ring ruft in der Redaktion an, berichtet von Verhaftungen.

"Ich bin nicht allein hier!", versichert sie der Redakteurin am Telefon. Die Presse wird von rechten Gruppen vor Ort zum Feind erklärt. "Manchmal habe ich das Gefühl, sie sprechen mit mir, als wäre ich kein Mensch." Auf den Schutz der Polizei kann sie nur bedingt bauen. Das Katz-und-Maus-Spiel macht die Lage in der Stadt unübersichtlich. Überall ziehen versprengte Gruppen durch die dunkle Stadt.

Die Polizei hat eigentlich schon vor Beginn der verbotenen Versammlung kapituliert. "Es wird nicht darum gehen können, möglichst viele festzusetzen", erklärt ein Sprecher der Polizei im Vorfeld. Dazu fehlt es an Einsatzkräften.

Deutschland Freiberg | Corona Protest
Beschädigtes Polizeifahrzeug in Freiberg: die Beamten verhaften zwei Teilnehmer der Corona-ProtesteBild: Hans Pfeifer/DW

Denn die Köpfe hinter den Protesten gehen strategisch vor. Die rechtsextreme Gruppe "Freie Sachsen" kündigt für montags immer mehr gleichzeitige Aufmärsche an. Die Polizei soll gezielt überfordert werden. Auf der Plattform Telegram organisieren die Rechtsextremisten den Protest und stacheln den Hass an. Polizisten werden als Milizen und Söldner beschimpft. Politiker und Gegner zu Volksfeinden erklärt. Unterstützung bekommen sie immer häufiger auch von der in Teilen verfassungsfeindlichen AfD. 

Wachsender Widerstand gegen Rechts

Sybill Matthes macht sich Sorgen um ihre Stadt Freiberg. "Das normale Miteinander-Umgehen wird nicht mehr praktiziert", beklagt die Zahnärztin. Und dass Politik und die Polizei die verbotenen Versammlungen nicht viel früher in die Schranken gewiesen haben. "Es ist fast aus dem Ruder gelaufen." Jetzt protestiert Sybill Matthes selbst. Gegen den Protest.

Deutschland Freiberg | Gesicht zeigen für Demokratie in Freiberg: Sybill Matthes
Gesicht zeigen für Demokratie: die Freiberger Zahnärztin Sybill MatthesBild: Hans Pfeifer/DW

Sie macht mit bei der Initiative "Freiberg für Alle". Die will dem Mob der Straße etwas entgegensetzen. Mehr als 5.000 Bürgerinnen und Bürger der Stadt unterstützen die Initiative bereits. Auch der Oberbürgermeister, Sven Krüger. "Es erschreckt mich, wenn Politiker bedroht, Sachen beschädigt und zum Rechtsbruch aufgerufen wird.Für mich ist hier die rote Linie überschritten", sagt er der DW. Die Unterstützer der Initiative sehen sich als die eigentliche Mehrheit in der Stadt, die nicht mehr still sein will. In Sachsen gibt es mittlerweile in vielen Städten und Gemeinden ähnliche Initiativen. Auch sie finden zunehmend Unterstützende.

Angstkultur in Freiberg

Ihr Problem: sie halten sich an die Regeln. Und so ist in Freiberg ihr Gegen-Protest auf der Straße nur klein. Denn sie kommen den Auflagen der Politik nach: maximal zehn Teilnehmer pro Versammlung. Jenny Fritsche ist eine von Ihnen. Sie ist aufgewühlt von dem Hass und der Gewalt in der Stadt. Sie wird bedroht, weil sie sich gegen Rechtsextremismus engagiert. Und die Bedrohungen hinterlassen Spuren. Sie spricht von einer Angstkultur in der Stadt. Dabei fühlt sie sich selbst noch privilegiert. "Meine Freunde aus Syrien und Afghanistan trauen sich hier montags nicht mehr auf die Straße."

Deutschland Freiberg | Versammlung für Demokratie und gegen rechten Hass: Initiative "Freiberg für Alle"
Protest der "schweigenden Mehrheit": immer mehr Freiberger wehren sich gegen die rechten Aufmärsche in ihrer StadtBild: Hans Pfeifer/DW

Dabei sei Freiberg noch gut dran. Auf den Dörfern rund um Freiberg würden politisch Andersdenkende von rechten und rechtsextremen Gruppen sozial gebrandmarkt werden. Wie viele engagierte Bürgerinnen und Bürger in der sächsischen Provinz fragt sie sich, wie lange sie durchhält. Und ob sie nicht besser wegziehen soll, wie so viele andere gut ausgebildete und engagierte Menschen. Auch wegen der Kinder. Aber bis auf weiteres will sie bleiben. "Irgendjemand muss es ja machen", so sagt sie.

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Hans Pfeifer Autor und Reporter