Gedenken "mit gebrochenem Herzen"
8. Mai 2020Die Worte dieses Gedenktages, der einzigen Rede, kommen vom Bundespräsidenten. "75 Jahre nach Kriegsende dürfen wir Deutsche für vieles dankbar sein. Aber nichts von all dem Guten, das seither gewachsen ist, ist auf ewig gesichert", mahnt Frank-Walter Steinmeier. "Der 8. Mai war nicht das Ende der Befreiung - Freiheit und Demokratie sind sein bleibender Auftrag, unser Auftrag!
Deutschland, die Welt gedenkt. Am 8. und 9. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation von Nazi-Deutschland zunächst an der Westfront, dann an der Ostfront. Damit endeten sechs Jahre von Hitler-Deutschland entfesselter Kriege mit Zigmillionen von Toten in weiten Teilen Europas. Damit endete auch die systematische Vernichtung von sechs Millionen Juden, das Morden an Minderheiten, an Kritikern. Deutschland in Trümmern und am Boden.
Begrenzte Gedenkfeier wegen Corona
75 Jahre danach wollte Deutschland feiern und gedenken - mit Überlebenden deutscher Verbrechen und Nachfahren der Opfer, mit Befreiern von einst und vielen internationalen Gästen, mit jungen Leuten aus Nah und Fern. Daraus wurde - wegen der Corona-Pandemie - nichts. Stattdessen luden die Kirchen am Morgen zum ökumenischen Fernsehgottesdienst aus dem fast völlig leeren Berliner Dom, der evangelischen Hauptkirche der Stadt. Gebete für die Opfer, Vergebungsbitten für alle Schuld, frommes Flehen um Frieden. Und Chorgesang.
Danach fällt, vor der Mittagsstunde, auf den Straßen des weithin menschenleeren Feiertags-Berlin der ein oder andere schwarze Auto-Konvoi auf. Die Audi-Limousine des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts mit dem Kennzeichen "4 – 1" ist kleiner als der begleitende Mercedes der Personenschützer. Es folgen die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat, auch die Kanzlerin, die aber zu Fuß ums Eck kommt. Als letzter erreicht Bundespräsident Steinmeier das Ziel, die "Neue Wache" am östlichen Ende der Prachtstraße "Unter den Linden".
Gedenkstätte des Schmerzes
Dieser gut 200 Jahre alte Bau ist einer jener Orte in Berlin, an denen sich Geschichte und Erinnerungen überlagern. Im Krieg fast zerstört, aufgebaut, später umgebaut. Das kaiserliche Reich gedachte hier schon vor 120 Jahren, später der preußische Staat, dann das nationalsozialistische Deutschland, dann die DDR, dann, seit 1993, das vereinte Deutschland. Es ist die offizielle Gedenkstätte der deutschen Hauptstadt "für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft".
So wie heute. Präsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Kanzlerin Angela Merkel, Verfassungsgerichts-Präsident Andreas Voßkuhle, Bundesrats-Präsident Dietmar Woidke verharren im Raum der Neuen Wache. Sie stehen vor fünf Kränzen, vor der Skulptur "Mutter mit totem Sohn" der Bildhauerin Käthe Kollwitz, diesem künstlerischen Ausdruck des stummen Schmerzes. Ein Solo-Trompeter spielt "Der gute Kamerad", dieses Lied, das zum militärischen Zeremoniell der Wehrmacht wie der Bundeswehr gehörte und gehört.
Die deutschen Verbrechen
Nach kaum fünf Minuten haben die fünf Repräsentanten den Raum verlassen. Steinmeier redet vor dem Gebäude bei strahlendem Sonnenschein, spricht vom Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, der Bombennächte und Todesmärsche, all der deutschen Verbrechen und des "Zivilisationsbruchs der Shoah". Ihm hören nur, sitzend, die vier anderen zu und wenige Dutzend Polizisten und Sicherheitsleute. Aber Steinmeier spricht vor allem in die Kamera, an das deutsche Volk, an die internationale Gemeinschaft. Seine 14 minütige Rede wird zum Appell, zur Mahnung.
Steinmeier nennt den 8. Mai 1945, den "Tag der Befreiung" einen "Tag der Dankbarkeit". Er dankt für Großzügigkeit der ehemaligen Kriegsgegner beim Wiederaufbau. Und von der Befreiung, die 1945 "von außen gekommen" sei, kommt er auf den "langen, schmerzhaften" Weg der inneren Befreiung der Deutschen. Angesichts von Schuld, von Mittäterschaft und Mitwisserschaft, von Verdrängung und Vergessen.
"Es gibt kein Ende des Erinnerns", sagt der Präsident. "Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte." Diese deutsche Geschichte sei "eine gebrochene Geschichte - mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid. Das bricht uns das Herz. Deshalb: Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben."
Da ist Steinmeier in der Gegenwart. Er bezeichnet Deutschland als "starke, gefestigte Demokratie". Aber er mahnt. Der Präsident spricht von der "Versuchung eines neuen Nationalismus. Von der Faszination des Autoritären. Von Misstrauen, Abschottung und Feindseligkeit zwischen den Nationen. Von Hass und Hetze, von Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung - sie sind doch nichts anderes als die alten bösen Geister in neuem Gewand."
Das verwundete Land
Steinmeier nennt die Opfer von Hanau, von Halle und Kassel. Opfer mutmaßlich rechtsextremen Terrors aus den vergangenen elf Monaten. Terror, der Deutschland verletzte und verunsichert. Und dann kommt dieser Schlusssatz, warnend und mahnend: Der 8. Mai sei nicht das Ende der Befreiung - "Freiheit und Demokratie sind sein bleibender Auftrag, unser Auftrag!"
Steinmeier setzt sich, man hört noch einmal die Trompete. Eine ebenso denkwürdige wie beklemmende Szenerie. Vorne einsam die fünf Repräsentanten des Staates, weit hinten im Bild quergestellte Polizei-Laster, die die Fahrspuren "Unter den Linden" sperren. Es ist der heutzutage übliche Schutz vor Terror-Angriffen mit Autos.
Die verwundete Stadt
Nur gut 20 Minuten dauert die so ganz eigene Feier. Dann geht dieser Feiertag ruhig weiter. Allerdings nur in Berlin. Im übrigen Deutschland ist der 8. Mai ein Arbeitstag. Auf ihrem Rückweg zur Privatwohnung, nur gut 200 Meter von der "Neuen Wache" entfernt, kommt Bundeskanzlerin Merkel an Gebäuden vorbei, die noch Einschusslöcher haben aus den letzten Tagen des Krieges. Wie Schusswunden wirken sie.
Und sie passiert das wegen der Büste der Nofretete weltbekannte "Neue Museum", ein im Krieg verletzter, nun mit allen Brüchen wieder erstandener Bau. Die Limousinen der anderen Repräsentanten passieren gleich hinter der "Neuen Wache" den Bebelplatz. Wieder so ein Ort. Am 10. Mai 1933 verbrannten die Nazis dort die Bücher von als "undeutsch" verachteten Autoren. Es gibt viele Schatten in diesem heute so sonnigen Berlin. Sie zeigen sich, wenn man denn will.