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KonflikteÄgypten

Ägypten-Israel: Auf dem Tiefpunkt der Beziehungen wegen Gaza

Jennifer Holleis
19. Mai 2024

Die israelische Offensive in Rafah stellt die Beziehungen zwischen Ägypten und Israel vor eine Zerreißprobe. Der 45 Jahre alte ägyptisch-israelische Friedensvertrag scheint dadurch allerdings nicht gefährdet zu sein.

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Palästinensische Binnenflüchtlinge transportieren ihr Hab und Gut auf einem beladenen Motorrad von Rafah nach Chan Yunis im Gazastreifen
Vertrieben: Hunderttausende Palästinenser sind seit Beginn der israelischen Offensive im Gazastreifen immer wieder gezwungen, zu fliehenBild: AFP via Getty Images

Israelische Soldaten hissen die israelische Flagge auf der palästinensischen Seite des Grenzübergangs Rafah im Gazastreifen: Diese Bilder haben sich in Windeseile im Internet verbreitet.

Sehr zum Unmut Ägyptens. Denn seit israelische Truppen am 6. Mai die Kontrolle über die palästinensische Seite des Grenzübergangs übernommen haben, ist es um die Beziehungen zwischen Israel und Ägypten schlecht bestellt.

So hält Ägypten seitdem seine Seite des Grenzübergangs geschlossen und hat erklärt, dass dies so bleiben werde, solange israelische Truppen den Grenzübergang auf der Seite von Rafah kontrollierten.

In einer ersten Reaktion hat Ägypten auch die Sicherheitskooperation mit der israelischen Armee an der Grenze eingestellt. Dies betrifft auch alle Hilfsgüter für den Gazastreifen, die über Ägypten und nur mit Zustimmung Israels geliefert werden.

In den vergangenen Tagen kündigte die israelische Regierung an, mehr Truppen ins südliche Rafah zu schicken. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte, die Einnahme des Grenzübergangs sei ein wichtiger Schritt zur Zerschlagung der militärischen und regierungstechnischen Kapazitäten der Terrororganisation Hamas.

Ägypten "von Wut und Frustration" getrieben

"Ägypten verurteilt die Besetzung des Grenzübergangs aufs Schärfste", sagte Simon Wolfgang Fuchs, außerordentlicher Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem, der DW. "Die derzeitigen Reaktionen Ägyptens sind von Wut und Frustration getrieben."

Ägypten habe sich seit Israels Militäraktion im Gazastreifen als Reaktion auf den beispiellosen Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 sehr kooperationsbereit gezeigt. Kairo habe alle israelischen Bedingungen für die Kontrolle der humanitären Hilfslieferungen über den Grenzübergang Rafah genauestens eingehalten. Daher habe man erwartet, "mit Respekt behandelt zu werden", betonte Fuchs.

Nach Angaben ägyptischer Geheimdienstmitarbeiter informierte Israel seine ägyptischen Ansprechpartner jedoch erst Stunden vor der Übernahme des Grenzübergangs. Aus Ägypten heißt es, Israel habe frühere Versprechen nicht eingehalten, wonach der gemeinsame Grenzübergang von Israels laufender Operation in Gaza nicht beeinträchtigt würde.

Es war vor 45 Jahren, 1979, als die damaligen Präsidenten Anwar Sadat und Menachim Begin unter Vermittlung von US-Präsident Jimmy Carter einen Friedensvertrag unterschrieben.

Mohamed Anwar Sadat ist der Neffe des damaligen ägyptischen Präsidenten. Dem Wall Street Journal sagte er kürzlich, dass der aktuelle Streit die schlimmste bilaterale Krise sei, die die beiden Staaten je erlebt hätten. Es herrsche "jetzt ein Mangel an Vertrauen", und es gebe Misstrauen auf beiden Seiten, so Sadat.

"Ägypten betrachtet die israelische Truppenkonzentration an der Grenze definitiv als ein potenzielles langfristiges Sicherheitsproblem", sagte Nathan Brown, Professor für Politikwissenschaft und internationale Angelegenheiten an der George Washington Universität in Washington.

Der ägyptisch-israelische Friedensvertrag habe die ägyptischen Militäraufmärsche im Sinai, im Norden Ägyptens, nahe der Grenze zum Gazastreifen und zu Israel begrenzt. Nun könnte sich dies zum ersten Mal seit 45 Jahren ändern, denn unbestätigten Quellen zufolge hat Ägypten kürzlich damit begonnen, Truppen und Ausrüstung in den Sinai zu verlegen.

Kairo befürchtet mehr palästinensische Geflüchtete 

Einen Binnenvertriebene aus Gaza läuft in Rafah hinter einem Zelt vor dem Stacheldrahtzaun entlang, der die Grenze zwischen Gaza und Ägypten markiert
Ägypten hat erklärt, dass es seine Seite des Grenzübergangs geschlossen halten wird, so lange israelische Truppen in Rafah bleibenBild: Mohammed Abed/AFP

Für andere Beobachter waren die Beziehungen zwischen Ägypten und Israel schon vor der Einnahme des Grenzübergangs Rafah angespannt. Denn in Ägypten befürchtet man schon länger, dass die israelische Offensive im Gazastreifen dazu führen könnte, dass immer mehr Palästinenser aus Sorge um ihr Leben nach Ägypten fliehen könnten.

Daher hat Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi mehrfach davor gewarnt, dass dies eine "rote Linie" sei. Sein Land - dessen Bevölkerung die Palästinenser und die Zweistaatenlösung weitgehend unterstützt – werde keine Palästinenser aufnehmen, die aus dem Gazastreifen fliehen.

Nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums sind in dem Krieg im Gazastreifen bisher mehr als 35.000 Menschen getötet worden. Im April suchten rund 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge - von den 2,3 Millionen Einwohnern des Gazastreifens - Zuflucht in Rafah, nachdem das israelische Militär der Zivilbevölkerung geraten hatte, aus anderen Teilen der Enklave zu fliehen.

Doch in diesem Monat wies das Militär in Erwartung seiner angekündigten Invasion in Rafah Hunderttausende von Menschen an, die Stadt zu verlassen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind etwa 600.000 Menschen in die Stadt Chan Junis (Khan Younis) geflohen, ebenso in Gegenden weiter nördlich entlang des Strandes, wo Zeltlager errichtet wurden.

Netanjahu erklärte, die Operation sei notwendig, um die verbleibenden Hamas-Bataillone in Rafah zu vernichten. Die Hamas wird von Israel, den USA, Deutschland und anderen Regierungen als terroristische Vereinigung eingestuft.

"Die von Israel angeordneten Evakuierungen der Menschen in neue sogenannte 'humanitäre Zonen' haben die ägyptischen Befürchtungen zwar vorerst beiseitegeschoben", so Simon Wolfgang Fuchs. "Aber Ägypten weiß natürlich, dass die Gefahr damit nicht gebannt ist, und wenn die humanitäre Lage weiterhin so dramatisch und schwierig bleibt, könnte es zu einer Erstürmung der Grenze kommen."

Ägypten will sich Völkermord-Klage gegen Israel anschließen

Ägypten wolle Israel sehr deutlich mitteilen, dass die Zusammenarbeit nicht als selbstverständlich betrachtet werden könne, sagte Brown. In den letzten Wochen sei es immer deutlicher geworden, dass Ägypten seine eigenen Interessen in den Vordergrund stelle.

"Kairo ist besorgt, dass der Krieg zwischen Israel und der Hamas Ägypten Probleme bereiten wird", so Brown. Die Regierung, die Beziehungen zur Hamas und zu Israel unterhält, hat nun erklärt, dass sie ihre Vermittlerrolle in Bezug auf die Freilassung der israelischen Geiseln und einen Waffenstillstand in Gaza überdenken wird.

Einem Bericht des Wall Street Journal zufolge erwägt die ägyptische Regierung auch die Abberufung von Khaled Azmi, dem ägyptischen Botschafter in Tel Aviv.

Luftaufnahme des Flüchtlingscamps Deir al-Balah im Gazastreifen mit tausenden von Zelten
Hunderttausende Palästinenser leben jetzt in Zeltlagern, nachdem sie aus ihren Häusern fliehen musstenBild: Ashraf Amra/Anadolu/picture alliance

Wie das Außenministerium in Kairo mitteilte, will sich das Land auch der von Südafrika angestrengten Völkermord-Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof anschließen. Der Beitritt zu dieser Klage zeige den Unmut Ägyptens auf eine sehr direkte und unmissverständliche Weise, so Brown.

Timothy E. Kaldas, stellvertretender Direktor des in Washington ansässigen Tahrir Institute for Middle East Policy, geht aber nicht davon aus, dass Ägypten die Beziehungen zu Israel gänzlich abbrechen werde.  "Ägypten hat viele andere Möglichkeiten, seinen Unmut zu äußern, ohne den Friedensvertrag mit Israel aufkündigen zu müssen", sagte er.

Experten gehen davon aus, dass Ägypten den Friedensvertrag mit Israel aufrechterhalten wird, da so der bilaterale Handel zwischen beiden Staaten weiter florieren kann. Ägypten ist zudem von Gasimporten aus Israel abhängig und möchte die dringend benötigte militärische Unterstützung durch die USA nicht riskieren.

Dieser Artikel ist im Original auf Englisch erschienen. Emad Hassan von der DW hat zu diesem Artikel beigetragen.