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"Wir haben zusammen geweint"

9. August 2018

Ein KZ-Besuch als Verständigungshilfe: Junge muslimische Flüchtlinge und jüdische Jugendliche haben gemeinsam die Gedenkstätte Auschwitz besucht, wo in der NS-Zeit mehr als eine Million Menschen ermordet wurden.

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Junge Juden und Muslime begegnen sich in Auschwitz
Bild: picture-alliance/dpa/M. Skolimowska

"Ich brauche jetzt erst mal eine Dusche für die Seele und den Körper", sagt Khaled Naeem. Er kommt gerade aus dem schummrigen Gebäude mit den Verbrennungsöfen von Auschwitz, raus in die Hitze und das grelle Sonnenlicht. Er ist erschöpft von all den Eindrücken, emotional tief berührt, den Tränen nah.

Die Wucht der Gedenkstätte hat ihn erschlagen: die Verbrennungsöfen, die Berge von Schuhen und menschlichem Haar, die Enge der Baracken, zu wissen, dass hier mehr als eine Million Menschen systematisch und kaltblütig ermordet wurden. "Wie in einer Fabrik", sagt Khaled: "Mich macht das einfach nur traurig." Er selbst hat auf der Flucht von Syrien über Jordanien nach Deutschland schon viel Leid gesehen: Tote auf den Straßen und ganze Familien, die bei der Überfahrt nach Europa ertrunken sind.

Polen, Auschwitz: Moslem Khaled Naeem besucht KZ
"Einfach nur traurig" - Khaled Naeem ist aus Syrien nach Deutschland geflüchtetBild: DW/V. Witting

Auch Masa Alimam, eine 17-jährige Syrerin, ist vollkommen überwältigt: "Für mich war es das schlimmste zu erfahren, was die Nazis mit den Kindern gemacht haben. Auch die wurden einfach ermordet." Einige der jungen Leute wollen gar nicht erst sprechen: verschlossene Gesichter, Tränen, Schweigen, der Wunsch nach Alleinsein.

Projekt für Toleranz und gegen Antisemitismus

25 junge Menschen, Muslime und Juden, haben sich gemeinsam auf den Weg gemacht, das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte zu verstehen: Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak und junge Juden aus Deutschland, zwischen 17 und 30 Jahren alt. Viele Vorurteile haben sie in den drei gemeinsamen Tagen, die sie miteinander gereist sind, abgebaut, sagen sie. Ein Beispiel: Viele Muslime seien Antisemiten. "Wir nehmen uns einfach als Menschen wahr. Die Religion spielt keine große Rolle", sagt eine jüdische Studierende (Name und Wohnort der Redaktion bekannt). "Wir haben zusammen gelacht und haben zusammen geweint", ergänzt Masa Alimam.

Die Idee zu dieser Exkursion in die deutsche Vergangenheit und die Beschäftigung mit der deutschen Verantwortung hatten der Zentralrat der Muslime in Deutschland und die Union Progressiver Juden. "Ich halte es für ein Pilotprojekt, das Nachahmer finden sollte", sagt der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime, Aiman Mazyek. Er hat schon mehrmals junge Muslime ins frühere Konzentrationslager Buchenwald begleitet. "Die Mühe hat sich gelohnt", ergänzt Rabbiner Walter Homolka: "Das Miteinander von Juden und Muslimen muss gelingen."

Deutschland besser verstehen lernen

Dass Antisemitismus bei einigen Muslimen in Deutschland immer noch eine Rolle spielt - ebenso wie in der Mitte der deutschen Gesellschaft -, würden beide wohl nicht bestreiten. Genau dagegen wollen sie mit ihrem Projekt ankämpfen. "Ich konnte das mit den Nazis nicht so gut verstehen, das hatten wir in Syrien nicht in der Schule. Jetzt ist mir vieles sehr viel klarer", sagte Masa Alimam.

Polen, Auschwitz: Muslima Masa Alimam besucht KZ
"Das hatten wir in Syrien nicht in der Schule" - Muslima Masa Alimam beim Besuch in der Gedenkstätte AuschwitzBild: DW/V. Witting

Unterstützung erhalten sie am Besuchstag auch von der Politik. Die Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein und Thüringen, Daniel Günther (CDU), und Bodo Ramelow (Die Linke), sind extra angereist. Sie wollen das Pilotprojekt bekannter machen und fördern. "Ich würde aber nicht sagen, dass ein Besuch in einem KZ Pflicht werden sollte. Pflicht hilft nicht!", sagt Ministerpräsident Ramelow. Einige Politiker hatten gefordert, dass ein KZ-Besuch für Migranten Pflichtprogramm werden sollte.

Auch Khaled Naeem ist dagegen: "Jeder, der es irgendwie schafft, sollte sich einmal eine KZ-Gedenkstätte anschauen. Aber bitte keine Pflicht!" Dass die Politiker mit dabei sind, kommt bei der Gruppe gut an. "Ich würden nicht sagen, dass die Politiker aus unserem Besuch ein Event gemacht haben", so die jüdische Studierende.

Juden und Muslime gedenken gemeinsam der NS-Opfer

Tatsächlich nehmen sich die beiden Ministerpräsidenten Zeit. Gemeinsam mit den jungen Leuten schauen sie sich die Ausstellungen an, halten eine kleine Gedenkfeier, essen mit ihnen zu Mittag. Sie wollen, dass die jungen Menschen verstehen, was die Shoah war, der millionenfache Mord an den europäischen Juden, und warum sie verpflichtet.

Gespräch mit einem Auschwitz-Überlebenden

Darum ging es auch bei einer Begegnung am Vortag: 138817 - jeder kann die Häftlingsnummer von Waclaw Dlugoborski sehen. Sie ist auf seinen linken Unterarm tätowiert und gut sichtbar, weil der hagere 92-Jährige an diesem heißen Sommertag ein kurzärmliges Hemd trägt. Dlugoborski ist Auschwitz-Überlebender und erzählt, wie er das Lager, wie er Misshandlungen und Massenmord erlebt und überlebt hat.

Polen, Ausschwitz: Gespräch mit Zeitzeugen
Bewegende Begegnung: Die Jugendlichen trafen den Auschwitz-Überlebenden Waclaw DlugoborskiBild: DW/V. Witting

Er berichtet von der Selektion an der Rampe, von den Menschen, die direkt in die Gaskammern geführt wurden, von den Arbeitslagern. Er selbst kam nach Auschwitz, weil er im polnischen Widerstand gegen die Nazis aktiv war. Gegen Ende des Krieges konnte er flüchten. Eine jüdisch-muslimische Gruppe habe er noch nie zu Besuch gehabt, sagt er der Deutschen Welle vor dem Zeitzeugen-Gespräch in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim, wie der polnische Ort heute heißt, den die Deutschen Auschwitz nannten.

"Was er erzählt hat, nimmt einen ziemlich mit", sagt später die jüdische Studierende: "Es ist natürlich eine einmalige Chance, jemanden erleben zu können, der das alles selbst durchgemacht hat. Das wird nicht mehr lange möglich sein." Am Schluss hat der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, noch eine Frage an Waclaw Dlugoborski. Er will wissen, was man aus dem Holocaust lernen kann. Der Überlebende antwortet: "Das sollte sich niemals wiederholen. Wir sollten alle Brüder sein!"

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online