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Zunehmende Zweifel

Bernd Riegert23. September 2004

Alle Streitpunkte seien beigelegt, die Zusagen Erdogans erlaubten eine klare Empfehlung für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Sagt EU-Erweiterungskommissar Verheugen. Aber: Stimmt das?

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Bernd Riegert

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan scheint lernfähig zu sein: Seinen taktischen Fehler, die EU kurz vor der entscheidenen Beurteilung durch die EU-Kommission mit einem rückwärtsgewandten Ehebruchparagrafen zu provozieren, hat er eingesehen. Erdogan versprach in Brüssel, die Strafrechtsreform EU-konform zu gestalten und noch vor dem 6. Oktober - also jenem Tag, an dem Erweiterungskommissar Günter Verheugen Beitrittsverhandlungen empfehlen will - zu verabschieden, War die ganze Aufregung also nur ein Sturm im Wasserglas?

Verheugen und Erdogan versicherten sich so lautstark ihrer gegenseitigen Freundschaft, dass es schon wieder verdächtig wirkte. An der Oberfläche sind die Risse gekittet, doch hat die Episode Spuren hinterlassen. Ernsthafte Zweifel am Kurs des vom radikalen zum gemäßigten Islamisten gewandelten Erdogan und dem erzkonservativen Teil seiner "Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit" (AKP) machen in Brüssel die Runde. Die konservative Fraktion im Europäischen Parlament vermutet gar, Erdogan werde umstrittene Gesetze jetzt solange zurückhalten, bis die Betrittsverhandlungen mit der EU im kommenden Jahr tatsächlich begonnen haben. Erst danach, wenn es für die EU keine Zurück mehr gebe, werde der türkische Regierungschef sein wahres Gesicht zeigen und die gesellschaftliche Reformen bremsen: Erdogan als islamistisches "Trojanisches Pferd" sozusagen.

Diese Theorie verwerfen Befürworter des Beitritts: Auch für die Türkei gebe es keine Zurück mehr. Die Reformen hätten gerade erst begonnen. Sollte Erdogan während der Verhandlungen seinen Kurs ändern, würde er den Beitritt zur EU ernsthaft gefährden. Aufhorchen lässt, dass der neue konservative Präsident der EU-Kommission, Jose Manuel Durao Barroso, die Entwicklung der Türkei offenbar wesentlich kritischer sieht als Günter Verheugen, der unter Barroso für Industriepolitik zuständig sein wird. Barroso sagte der französischen Zeitung "Le Monde", die Türkei erfülle derzeit nicht alle Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Die Türkei müsse sich an europäische Regeln gewöhnen und nicht umgekehrt.

Die Skepsis wächst. Vielleicht ist es auch die Angst vor der eigenen Courage. Barroso sagt völlig zu Recht, die Aufnahme der Türkei wäre für die EU ein umwälzender Einschnitt. EU-Kommissar Frits Bolkestein warnt, die Türkei könnte die alte Union implodieren lassen. Auch vom französischen Ministerpräsidenten Jean-Pierre Raffarin sind neuerdings kritische Töne zu hören. Er stellt sogar die Europatauglichkeit der gesamten türkischen Gesellschaft in Frage, die den Laizimus, die Trennung von Staat und Religion, nicht ausreichend verinnerlicht habe.

Aber: Wenige Wochen vor der Entscheidung jetzt noch eine grundsätzliche Diskussion nachholen zu wollen - das ist nahezu unmöglich. Bereits 1999 ist die grundsätzliche Entscheidung gefallen, die Türkei irgendwann aufzunehmen. Es geht nur noch um die Bedingungen und Zeitabläufe. Damals haben sich die Staats- und Regierungschefs vor einer grundsätzlichen Debatte über die Türkei, die Grenzen Europas, über Religion und Kulturen gedrückt. Das sagt einer, der dabei war, nämlich der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker. Die Saat des Zweifels keimt.