Keine Häftlinge mehr in Syriens Saidnaja-Gefängnis
10. Dezember 2024Die systematische Durchsuchung des riesigen Gefängniskomplexes nördlich von Damaskus nach geheimen Zellen und verborgenen Kellerräumen sei abgeschlossen, teilten die Weißhelme mit. Die Mitglieder des syrischen Zivilschutzes äußerten ihr Mitgefühl mit den vielen Familien, die vergeblich darauf gehofft hätten, dass vermisste Angehörige nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad lebend in dem berüchtigten Militärgefängnis gefunden würden.
Der Leiter der Weißhelme, Raid Al Saleh, sagte, es seien insgesamt rund 150.000 Menschen in der Haftanstalt festgehalten worden, die in Syrien wegen des brutalen Vorgehens der Wärter und berüchtigter Foltermethoden als "Schlachthaus" bekannt ist. Unter den Inhaftierten waren nach Angaben der Organisation Tausende unschuldige Zivilisten, die vom Assad-Regime "eingekerkert wurden".
Nach dem Sturz von Baschar al-Assad waren am Montag zahlreiche Menschen zum Saidnaja-Gefängnis geströmt, um nach teils seit Jahren inhaftierten oder vermissten Angehörigen zu suchen. Bis zum Abend versammelten sich tausende Menschen vor der mehrstöckigen Haftanstalt nördlich der Hauptstadt.
Angehörige hofften vergeblich
Überlebende und Angehörige hätten nach Assads Sturz und der Stürmung des Gefängnisses durch Oppositionskräfte vermutet, dass einige Häftlinge noch immer in verschlossenen Zellen und Geheimräumen festsäßen. Viele dieser Hoffnungen seien nun schmerzlich enttäuscht worden. Mithilfe von Spürhunden und Insidern, die mit dem Gefängnis vertraut seien, hätten fünf Suchteams den gesamten Komplex durchsucht, teilten die Weißhelme mit. "Trotz dieser umfangreichen Bemühungen wurden keine versteckten oder verschlossenen Bereiche entdeckt." Die Suche nach vermissten Opfern des Machtapparats gehe dennoch weiter - auch außerhalb des Gefängnisses gebe es Massengräber und zahllose Leichen zu identifizieren.
Das Saidnaja-Gefängnis steht für die Brutalität der jahrzehntelangen Herrschaft der Assad-Familie. Baschar al-Assad hatte bei seinem Amtsantritt im Jahr 2000 von seinem verstorbenen Vater Hafis al-Assad einen Apparat von Gefängnissen und Haftanstalten übernommen, in denen Andersdenkende weggesperrt wurden.
Islamistische Kämpfer unter der Führung der Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hatten am Sonntag Damaskus eingenommen. Der Staatschef Assad flüchtete nach Angaben russischer Staatsmedien nach Russland. Die Kämpfer hatten am 27. November im Nordwesten Syriens eine überraschende Offensive gestartet und waren innerhalb weniger Tage bis in die Hauptstadt vorgerückt. Die Islamisten kündigten an, dass "alle zu Unrecht Inhaftierte" freigelassen werden sollen.
Dutzende Leichen mit Folterspuren entdeckt
Nach dem Sturz Assads haben islamistische Kämpfer in einem Krankenhaus nach eigenen Angaben dutzende Leichen mit Folterspuren entdeckt. In der Leichenhalle einer Klinik nahe der Hauptstadt Damaskus habe er am Montag die gestapelten sterblichen Überreste von etwa 40 Menschen gesehen, sagte einer der Kämpfer, Mohammed al-Hadsch, der Nachrichtenagentur AFP. Beim Öffnen der Leichenhalle habe sich ihm "ein grauenhafter Anblick" geboten. AFP liegen dutzende Fotos und Videoaufnahmen von Leichen vor, die Folterspuren aufweisen: ausgestochene Augen und fehlende Zähne, Blutspritzer und Blutergüsse. Einige der Toten waren bekleidet, während andere nackt waren. Einige von ihnen waren offenbar erst kürzlich getötet worden.
Die Leichen wurden nach Angaben von al-Hadsch in ein Krankenhaus nach Damaskus gebracht, damit sie von ihren Angehörigen identifiziert werden können. Nach Angaben der Vereinigung der Inhaftierten und Vermissten des Saidnaja-Gefängnisses handelt es sich bei den Leichen vermutlich um Insassen des berüchtigten Gefängnisses.
Islamisten planen Liste mit Folter-Verantwortlichen
Die Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham will frühere syrische Offiziere und Beamte, die an staatlicher Folter beteiligt waren, namentlich in einer Liste nennen und sie als Kriegsverbrecher zur Rechenschaft ziehen. "Wir werden jedem Belohnungen anbieten, der Informationen über ranghohe Offiziere von Armee und Sicherheitsbehörden zur Verfügung stellt, die an Kriegsverbrechen beteiligt waren", teilte HTS-Anführer Ahmed al-Scharaa mit, der zuvor mit seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Dschulani auftrat. In einer ersten Liste sollten die Namen der ranghöchsten beteiligten Ex-Offiziere veröffentlicht werden. Man werde die Länder, in die die Täter geflohen seien, um deren Überstellung bitten.
Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR) wurden allein seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 mehr als 15.000 Menschen durch Folter getötet. In 98 Prozent der Fälle war das Assad-Regime verantwortlich, in Dutzenden Fällen aber auch HTS, andere Milizen in Syrien oder die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS).
kle/pg (afp, dpa)