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PolitikEuropa

"Zeitenwende in der europäischen Politik?"

16. Dezember 2022

Die EU hat Bosnien und Herzegowina zum Beitrittskandidaten erklärt. Trotz vieler Reformmängel im Land sei das die richtige Entscheidung im neuen geopolitischen Kontext, sagt der Politologe Vedran Dzihic im DW-Interview.

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Symbolbild Bosnien Herzegowina UN
Bild: picture-alliance/AA/D. Aydemir

Deutsche Welle: Herr Dzihic, die Europäische Union hat beschlossen, Bosnien und Herzegowina den Status eines EU-Kandidatenstaates zu verleihen. Darauf hat das Land seit vielen Jahren gewartet. Warum ausgerechnet jetzt?

Vedran Dzihic: Das ist ein politisches Signal im Kontext des russischen Krieges gegen die Ukraine und in einer Situation, in der man auch der Ukraine und der Republik Moldau den EU-Kandidatenstatus verliehen hat. Bosnien hatte diesen Status bisher nicht, weil es die Voraussetzungen dafür nicht erfüllte. Aber da auch die Ukraine und die Republik Moldau diese Voraussetzungen nicht erfüllen, war es nur konsequent von der EU, auch Bosnien den Kandidatenstatus zu geben.

Vedran Dzihic
Der Politologe Vedran Dzihic ist Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale PolitikBild: Privat

Was bedeutet das für Bosnien und Herzegowina nun konkret?

Ändern wird sich dadurch für Bosnien nicht viel. Das Land bekommt nicht mehr Geld, und die EU-Integration wird sich nicht beschleunigen. Die EU sagt lediglich, wir zeigen hier in der Region Flagge. Eine symbolische politische Geste, die eine Möglichkeit für Bosnien und Herzegowina eröffnet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Kommt die Entscheidung nicht viel zu spät?

Verdient hat Bosnien den Kandidatenstatus eigentlich nicht. Die Ethnopolitiker aller drei Seiten im Land, also der Bosniaken, Serben und Kroaten, haben bei den Reformen seit Jahren nichts gemacht und den EU-Integrationsprozess teilweise sogar sabotiert, vor allem die Führungspolitiker im Landesteil Republika Srpska. Dennoch ist es eine überfällige Entscheidung der EU gewesen. Man hat ja auch mit anderen Staaten der Region EU-Beitrittsverhandlungen begonnen, ohne dass sich dort großartig etwas bewegt hätte. Serbien ist dafür das beste Beispiel.

Die Euphorie der bosnischen Öffentlichkeit über diese Entscheidung hält sich in Grenzen. Wie erklären Sie sich das?

Ich glaube, es hängt vor allem mit der langen Wartezeit zusammen. Im Grunde wartet Bosnien und Herzegowina ja seit 20 Jahren auf Schritte bei der EU-Integration, und es ist fast nichts passiert. Ich denke, dass sehr viele Menschen in dieser Zeit die Illusion verloren haben, ihr Land in absehbarer Zeit in der EU zu sehen. Die meisten sind sicher sehr ernüchtert, vor allem über die schleppende Entwicklung im eigenen Land und die Untätigkeit der einheimischen Politik, aber auch über die Langwierigkeit der EU-Integration. Sie entscheiden dann auf ihre persönliche Art, indem sie das Land verlassen und in EU-Länder auswandern.

Sehen Sie überhaupt noch eine politische Ambition in der bosnischen Politik, auf einen EU-Beitritt hinzuarbeiten? Oder lässt man das Ganze eher auf kleiner Flamme köcheln?

Vor ein paar Monaten hätte ich das noch genau so gesehen. Jetzt sieht es aber nach der Wahl vom Oktober 2022 so aus, als wenn doch ein bisschen Bewegung in die bosnische Politik kommt. Ein Zeichen dafür ist die sich derzeit formierende Koalition aus acht Parteien bzw. politischen Kräften, die sich zum Ziel gesetzt hat, programmatisch zu arbeiten. Mit dieser Koalition wird auch die langjährige Vorherrschaft der SDA, der vorherrschenden ethno-nationalen politischen Kraft der Bosniaken, gebrochen, und dies ist ein wichtiger Schritt. Allerdings sind die ethno-nationalen Parteien der Kroaten und Serben, HDZ und SNSD, in der Koalition mit vertreten. Es gibt aber jedenfalls den Versuch in dieser Koalition, die EU-Integration als wesentliches programmatisches Ziel der Regierung für die nächsten vier Jahre sehr prominent zu verankern. Das heißt, es existiert eine Absichtserklärung, wirklich voranzukommen, was bei den Regierungen der vergangenen Jahre nicht der Fall war. Ich sehe einiges in Bewegung. Allerdings muss man abwarten, was die kommenden Jahre praktisch bringen werden. Ich denke, es gibt Anlass für einen skeptischen, milden Optimismus.

Um den EU-Kandidatenstatus zu erhalten, sollte Bosnien seit 2016 vierzehn konkrete Reformpunkte erfüllen. Keinen davon hat es erfüllt. Welches sind die wichtigsten Mängel?

Der wichtigste ist meiner Ansicht nach, dass es keinen zentralen Koordinations- und Kooperationsmechanismus für die EU-Integration gibt. Dabei muss man im Hinterkopf haben, dass Bosnien und Herzegowina ein extrem kompliziertes Staatswesen mit zahlreichen Regierungsebenen und sehr vielen Kompetenzen auf allen Verwaltungsebenen ist. Deshalb bedarf es eines solchen Mechanismus. Und den gibt es nicht. Der zweite wichtige Punkt ist, dass es praktisch bislang nur sehr wenige Reformen in der Justiz und bei der Bekämpfung der Korruption gegeben hat. Das muss ein Schwerpunkt werden. Ein dritter ist die Reform der bosnischen Verfassung. Derzeit dominieren im bosnischen Staat die drei Nationen - Bosniaken, Serben und Kroaten. Alle, die sich als andere deklarieren oder ethnisch nicht definieren wollen, sind zum Beispiel von der Wahl ins dreiköpfige Staatspräsidium ausgeschlossen. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben dies für illegal erklärt. Bei einer Verfassungsreform geht es, grob gesagt, darum, Bosnien von einem Ethno- zu einem Bürgerstaat zu machen.

Ist es angesichts dieser Bilanz ein gutes Signal an das Land, ihm den EU-Kandidatenstatus zu verleihen?

Ich glaube, bei dieser Frage geht es nicht in erster Linie darum, zu sagen, wir verhandeln ab dem und dem Zeitpunkt, sondern darum, zu sagen, was die EU der Region generell anbieten kann. Es gab ja beispielsweise Überlegungen eines gemeinsamen Binnenmarkts mit der Westbalkan-Region, mit einem späteren EU-Beitritt. Insgesamt geht es um die Suche nach einer neuen Logik des Erweiterungsprozesses. Bis jetzt sehen wir nur die alte Logik, also die eines Erweiterungsprozesses als Papiertiger. Die neue Logik wäre, zu schauen, was man für Voraussetzungen schaffen kann, damit die Westbalkan-Region überhaupt wieder auf Reformkurs kommt.

Stichwort Papiertiger. Das Interesse an Bosnien und Herzegowina in der EU tendierte in den vergangenen Jahren gefühlt gegen Null. Sehen Sie mit der jetzigen Entscheidung eine Wende gekommen?

Ich glaube, in der neuen geopolitischen Situation, in der wir seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine sind, sieht man auch in der EU ganz klar, dass die Integrationsfrage des Westbalkans zu einer geopolitischen Frage und einem Sicherheitsinteresse Europas geworden ist. Ich denke, nun ist auch klar, dass man dem russischen Einfluss in der Westbalkan-Region einen Riegel vorschieben muss.

Ist also eine Art Zeitenwende in der EU angekommen?

Das ist die große Frage. Die Entscheidung, der Ukraine und der Republik Moldau den Kandidatenstatus zu verleihen, bedeutete jedenfalls, dass man ab jetzt anders agiert. Was das konkret zur Folge hat, ist noch unklar. Ich denke aber, dass die EU in dieser neuen Situation einen anderen Zugang zur Region finden muss. Vor allem darf sie nicht mehr in die Stabilitätsfalle tappen und nur mit den starken, autoritären Männern der Region verhandeln. Sie muss auch andere Akteure ansprechen als nur jene aus den traditionellen politischen Eliten, sie muss auch Bürgerbewegungen und zivile Aktivisten verstärkt ansprechen und neue demokratische und pro-europäische Allianzen schmieden.

Vedran Dzihic ist Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik, unterrichtet an der Universität Wien und an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Er leitet das Center of Advanced Studies South East Europe (CAS SEE) an der Universität Rijeka und ist Mitglied der Balkans in Europe Policy Advisory Group (BIEPAG). Dzihic ist Autor zahlreicher Bücher und Publikationen sowie aktiv in der Politikberatung und in öffentlichen Debatten.

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