"Wählen? Nie wieder! Es ändert sich sowieso nichts"
4. Dezember 2020Rund 6 Millionen Menschen in Rumänien - etwa ein Drittel der im Land verbliebenen Bevölkerung - sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Jedes zehnte Kind geht Abend für Abend hungrig ins Bett. Ein Viertel der rumänischen Bevölkerung hat das Klo im Hof. Der europäische Durchschnitt liegt bei zwei von hundert.
Steves Familie hat zwar ein Badezimmer im Haus, aber keinen Wasseranschluss mehr. Der Strom kommt von einem Nachbarn im Gebäude nebenan. Die alte Stadtvilla mit hohen Räumen hat große Fenster mit Blick zur Straße. Jetzt sind sie alle verdeckt. Wie in vielen anderen Gebäuden im historischen Kern von Bukarest fällt der Putz ab, die Holzfenster sind zerbrochen, die Türen haben keine Klinken mehr und schließen nur, wenn man sie kräftig zuschlägt. Kalte Winterluft zieht durch die Räume.
Irgendwann brachte jemand der Familie einen Ofen, in den der fünfjährige Enkelsohn heute regelmäßig Holz einwirft. Für 45 Prozent der rumänischen Haushalte ist Holz - oft sind es nur Äste oder getrocknete Maiskolben - immer noch die Hauptheizquelle.
Offiziell gibt es Steves Familie in diesem Gebäude gar nicht. Nach Angaben der Behörden ist das Haus, in dem der Mann und vier Kinder seit einem Jahr und zwei Monaten leben, unbewohnt.
Der Behördenwillkür ausgesetzt
Steve kommt aus einem Dorf in Südrumänien. "Meine Frau traf ich in Bukarest, ich bin seit 1995 in der Hauptstadt. Wir haben unser Bestes getan, um Kinder zu haben, eine Familie, das muss so sein." Dreizehn Jahre lebten sie mit Zustimmung des Besitzers in einem unbewohnten Haus. Als dieser das alte Haus verkaufte, ließ es der neue Besitzer niederreißen. Das Grundstück steht auch heute noch leer da. Bevor Steve ausziehen musste, beantragte er eine Sozialwohnung. "Sie verlangten etwas von mir, was ich nicht nachweisen konnte: eine Anschrift. Wir waren ja nicht angemeldet. Wir hatten jede Hoffnung verloren. Im Rathaus fragten sie spöttisch, warum wir so viele Kinder hätten, wenn wir nicht über die nötigen Mittel verfügten, um sie großziehen zu können. Ich gab auf."
Jetzt hat Steve Angst, dass Beamte vorbeikommen, vermummte Polizisten, die seine Familie auch aus dieser Bruchbude zwangsräumen, weil sie illegal wohnen. "Gott bewahre! Ich fürchte, sie werden auch meine Kinder mitnehmen. Es sind meine Kinder, ich habe sie großgezogen, wie kann man sie mir wegnehmen?"
Das Recht auf Wohnen
Rein instinktiv versuchen Menschen in einer solch hoffnungslosen Lage, sich vor den Behörden zu verstecken, erklärt Irina Zamfirescu, Menschenrechtsaktivistin in Bukarest. "Das erste Gefühl, das die Sozialbeamten bei diesen marginalisierten Personen erzeugen, ist Angst."
Zamfirescu verfolgt seit fast einem Jahrzehnt das Phänomen prekärer Wohnverhältnisse: "Vertreter der Sozialbehörden kommen in der Regel nicht dann vorbei, wenn sie gebraucht werden, sondern erst am Tag der Räumung, um die Menschen zu überzeugen, auszuziehen", sagt sie im DW-Gespräch. Oft würden sie damit drohen, dass die Kinder weggebracht werden, wenn sich die Familie der Räumung widersetzt, so die Menschenrechtsaktivistin. Somit hätten diese Menschen das Gefühl, dass die Behörde da sei, um den Bürgermeister zu vertreten, nicht die Bedürfnisse der Bürger. "Und nach dem, was ich bisher gesehen habe, trügt dieses Gefühl nicht", bemerkt Zamfirescu bitter. Dabei sei das Recht auf Wohnen ein Menschenrecht.
Arm, abgehängt, ausgegerenzt
Steve war noch nie in seinem Leben richtig mit Vertrag angestellt. "Ich habe schwarz gearbeitet, illegal, am Bau, ich war Dachdecker, Maler... einfach alles. Ich bekam 120 Lei (ca. 25 Euro) am Tag, brachte das Geld nach Hause, kaufte ein, damit wir von einem Tag auf den anderen leben konnten. Wenn es keine Arbeit gibt, leben wir von der Straße. Wir sammeln Zeitungen, Flaschen, einfach alles, was auf den Straßen zu finden ist." Um die Kinder kümmert er sich zurzeit allein, denn seine Frau sitzt wegen einer geringfügigen Straftat im Gefängnis.
Wenn Steve Arbeit hat, verlässt er um drei Uhr morgens das Haus. Schnell macht er noch Feuer im Ofen, damit die Kinder es warm haben, lässt ihnen etwas Geld auf dem Tisch, damit sie sich einen Saft und etwas zum Essen kaufen. Er hat Tränen in den Augen: "Ich weine nicht um Gnade. Wenn die Kinder nicht wären, würde ich auf der Straße schlafen."
An diesem Sonntag (6.12.) wird in Rumänien ein neues Parlament gewählt. Armutsbekämpfung sollte sich als Kernpunkt der nationalen Strategie in jedem Parteiprogramm wiederfinden. Aber die Armen Rumäniens haben in den drei Jahrzehnten seit der Wende weder Platz in den Wahlkampagnen, noch in den Regierungsprogrammen gefunden. Ihre Stimmen wurden oft mit einer Tüte Lebensmitteln und mit vielen populistischen Versprechungen gekauft, die offensichtlich nie eingehalten wurden.
Ein politisiertes System
Steve hat bisher jedes Mal gewählt, jetzt hat er die Nase voll: "Im Parlament machen die nur wirre Gesetze, damit sie mich an ihrer Stelle ins Gefängnis bringen können."Irgendwann brachte jemand der Familie einen Ofen, in den der fünfjährige Enkelsohn heute regelmäßig Holz einwirft.
Das Misstrauen gegenüber den Behörden ist berechtigt, sagen sogar rumänische Politiker. "Diese Menschen fordern ihre Rechte ein und werden ohne Erklärung und ohne Hilfe abgewiesen", sagt Oana Țoiu, ehemalige Staatssekretärin im Arbeitsministerium und Spitzenkandidatin der Allianz USR-PLUS. "Es ist klar, dass vielen Menschen nicht geholfen wurde, aus dem Zustand der Abhängigkeit herauszukommen, sondern dass sie dort festgehalten wurden", so Țoiu. Das System sei durch und durch politisiert, Ämter würden politisch verteilt, die Verwaltung sei überfordert und unprofessionell.
"Es gibt die katastrophalste Armutssituation in Rumänien", erkennt auch der sozialdemokratische Abgeordnete Petre Florin Manole, ein ehemaliger Berater im Arbeitsministerium. Armut werde oft als Fehler gesehen, für den man selber die Schuld trage. Das sei irrational und inakzeptabel: "Politiker, die armen Menschen mit Hass begegnen, können nicht gleichzeitig gesellschaftspolitisch für die Armutsbekämpfung eintreten."
Auch der liberale Kandidat Sebastian Burduja kritisiert die Zustände in der rumänischen Sozialpolitik und Verwaltung: "Dieser Bereich wurde von Politikern übernommen, die mit Hilfe der staatlichen Sozialmaßnahmen schutzbedürftige Menschen in Abhängigkeit halten. Seit 30 Jahren machen sie sich über diese Menschen lustig und benutzen sie als Wählermasse."
Ob Steve auch an diesem Sonntag wählen geht? Nie wieder, sagt er, es ändere sich sowieso nichts: "Das Einzige, was ich mir wünsche, ist eine Bleibe für mich und meine ganze Familie. Sonst absolut nichts."