Russische Kriegsgefangene in der Ukraine
21. Juni 2022Ein Untersuchungsgefängnis in der Ukraine - den genauen Ort darf die DW aus Sicherheitsgründen nicht nennen. Der zweite Stock des Gebäudes ist russischen Kriegsgefangenen vorbehalten. Sie werden von den anderen Gefangenen getrennt festgehalten - "zu ihrem eigenen Schutz", wie es heißt.
Nach einer journalistischen Anfrage an den Staatlichen Strafvollzugsdienst der Ukraine erhielt die DW die Gelegenheit, mit russischen Gefangenen zu sprechen - als erste Medienvertreter überhaupt. Auch die Dreharbeiten im Untersuchungsgefängnis waren exklusiv. Die Erlaubnis wurde unter der Bedingung erteilt, dass die DW weder den genauen Aufenthaltsort der Gefangenen nennt noch ihre Gesichter zeigt. Auch durften wir nur mit Gefangenen reden, die nicht wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden und gegen die auch sonst kein Strafverfahren eröffnet wurde: Für Befragungen solcher Personen wäre eine zusätzliche Genehmigung des Ermittlers oder Staatsanwalts erforderlich.
"Erst hier sind mir die Augen aufgegangen"
In einer der Zellen sitzen sieben Männer unterschiedlichen Alters. Der Besuch von Journalisten überrascht sie nicht. Sie sagen, Vertreter der Vereinten Nationen oder des Roten Kreuzes würden jede Woche vorbeikommen.
Während der Interviews wurden die DW-Journalisten von Mitarbeitern der Haftanstalt begleitet. Sie boten der DW an, sich die Gesprächspartner selbst auszusuchen. Die DW interviewte vier Gefangene, nachdem diese ihr Einverständnis zu einem Gespräch gegeben hatten; sie seien alle Berufssoldaten und hätten nichts zu verbergen, sagten sie.
"Ganz ehrlich: Wir wurden getäuscht", erzählt Roman aus dem russischen Wyborg. "Anfangs wurde uns gesagt, es ginge um humanitäre Dinge. Aber ich wurde sofort an die Front geworfen." Bei Gefechten in der Region Charkiw wurde Roman verwundet. Das ukrainische Militär habe ihn mitgenommen und ärztlich versorgt, sagt er.
Artjom, ein anderer Kriegsgefangener, betont hingegen, er habe sich bewusst entschieden, an der "Sonderoperation" gegen die Ukraine teilzunehmen. (So wird der Krieg Russlands gegen die Ukraine offiziell in Russland bezeichnet, Anm. d. Red.) Auf eine Anzeige im Internet hin sei er in das von prorussischen Separatisten kontrollierte Donezk gefahren, wo er in wenigen Tagen gelernt habe, einen T-72-Panzer zu steuern. Dann sei er in Richtung Saporischschja geschickt worden. Doch sein Kampfpanzer wurde zerstört und er selbst vom ukrainischen Asow-Regiment gefangen genommen. Der Russe versichert, er habe Essen und Zigaretten bekommen, und fügt hinzu: "Faschisten habe ich keine gesehen."
Auf die Frage, warum er in die Ukraine gegangen ist, antwortet Artjom: "Im Fernsehen wird erzählt, dass wir angeblich für eine gute Sache kämpfen, aber in Wirklichkeit ist das überhaupt nicht der Fall. Erst hier sind mir die Augen aufgegangen." Die russische Armee bezeichnet er als "Plünderer und Mörder".
Wie ist der Alltag der Kriegsgefangenen?
Die Zelle der Gefangenen ist mit alten Möbeln ausgestattet, sie ist eng, aber sauber. Auf dem gemeinsamen Tisch liegt Plastikgeschirr - jeder hat sein eigenes. Löffel und Gabeln sind aber aus Metall. Den Wachen zufolge ist bei normalen Gefangenen auch das Besteck aus Sicherheitsgründen aus Plastik. Aber mit den Kriegsgefangenen sei es einfacher, sie seien nicht aggressiv und würden nur auf einen Gefangenenaustausch warten.
Das Mittagessen verteilt ein ukrainischer Häftling unter Aufsicht eines Wärters an die Russen. Durch eine Öffnung in den Türen jeder Zelle wird Borschtsch und ein Brei aus Buchweizen gereicht. Zum Frühstück habe es Maisbrei mit Fleisch gegeben, so die Gefangenen. Laut Speiseplan, der im Flur aushängt, gibt es dreimal täglich Verpflegung. Außerdem dürfen die Kriegsgefangenen spazieren gehen und täglich baden.
"Verschwindet! Ihr habt hier nichts zu suchen!"
In einer anderen Zelle befinden sich drei junge Männer um die 20. Auf dem Tisch neben ihren Betten liegt ein Stapel Bücher. Die Gefangenen sagen, dass sie gerne Krimis und Romane lesen.
Einer von ihnen ist Dmitrij. Er meint, er habe nicht gewusst, dass es am 24. Februar aus dem russischen Belgorod in die Ukraine gehen würde. "Man hat uns nicht gesagt, wohin wir fahren. Erst als wir schon auf ukrainischem Territorium waren und die Schilder und Fahnen sahen, wurde es uns klar. Ich fragte den Kommandanten, was wir hier machen und bekam als Antwort, ich solle keine unnötigen Fragen stellen", erinnert sich Dmitrij. Als sein Panzer am 27. Februar in der Nähe von Pryluky in der Region Tschernihiw beschossen wurde, ergab er sich den Ukrainern.
Bei den Interviews mit ihm und zwei weiteren Kriegsgefangenen waren ein Wachmann, ein Psychologe der Untersuchungshaftanstalt und weitere Häftlinge anwesend. Die DW-Journalisten hatten persönlich den Eindruck, dass die Anwesenheit der U-Haft-Mitarbeiter keinen Einfluss auf die Erzählungen der Gefangenen oder ihren Wunsch zu sprechen hatte. Die Wachen hörten dem Gespräch nicht zu. Sie hielten Abstand und übten keinen Druck auf die DW-Gesprächspartner aus.
Mit dem Gefangenen Oleg aus Karelien sprach die DW in einem getrennten Raum unter vier Augen. Er habe seinen Vertrag mit den russischen Streitkräften im März verlängert, erzählt er. "Ich habe den Nachrichten im Fernsehen geglaubt, wonach wir fahren würden, um zu helfen, dass es hier Nationalisten gebe, die die eigenen Leute töten und foltern würden", so der junge Mann. Doch als er in der Region Charkiw angekommen sei, habe er keinen einzigen Nationalisten gesehen. "Als wir in die Dörfer kamen, sagten uns die Menschen ganz direkt: 'Verschwindet! Ihr habt hier nichts zu suchen!'"
Als er seinen Vertrag unterzeichnet habe, so Oleg, sei ihm eine Schulung versprochen worden, aber auch, nicht an vorderster Front eingesetzt zu werden. Doch schon nach drei Tagen sei er zur Einkreisung der Millionenstadt Charkiw abkommandiert worden. Seine Einheit habe versucht, nach Russland zurückzukehren, doch das Kommando habe dies verboten. Dann sei der Kontakt zum Kommando abgebrochen und seine Einheit wenig später von der ukrainischen Armee gefangen genommen worden.
Kann man den Kriegsgefangenen trauen?
Alle Gefangenen, mit denen die DW sprechen konnte, versichern, dass sie ihre Beteiligung an der Invasion der Ukraine bereuen und nicht auf friedliche Menschen in Dörfern und Städten geschossen hätten. Die ukrainischen Ermittler haben bislang auch keine Beweise für etwaige von ihnen begangene Kriegsverbrechen vorgelegt. Auch per Lügendetektor sollen die Gefangenen überprüft worden sein.
Die Mitarbeiter des Gefängnisses erzählen, dass der russische Soldat Wadim S., der auch bei ihnen einsaß, angeblich erst bei einem Lügendetektortest gestanden habe, in der Region Sumy auf einen Zivilisten geschossen und ihn getötet zu haben. Am 23. Mai wurde er von einem ukrainischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Es war das erste Urteil in einem Prozess gegen einen russischen Kriegsgefangenen in der Ukraine.
Was kostet der Unterhalt eines Kriegsgefangenen?
Keiner der Gefangenen beschwert sich im Gespräch mit der DW über schlechte Haftbedingungen oder unmenschliche Behandlung. "Jeden Tag werden wir gefragt, ob wir etwas brauchen. Wenn möglich, bekommen wir es auch. Das Essen ist ausgewogen", sagt Roman.
Nach Angaben des ukrainischen Justizministeriums werden für einen Kriegsgefangenen pro Monat rund 3000 Hrywnja (umgerechnet 95 Euro) für Lebensmittel, Kleidung, Hygieneartikel sowie für Wasser und Strom benötigt. Hinzu kommen Ausgaben für medizinisches Gerät und Medikamente sowie die Personalkosten.
Die stellvertretende Justizministerin Olena Wysozka sagte gegenüber der DW, solche Ausgaben seien gerechtfertigt, da die Haftbedingungen für Kriegsgefangene der Genfer Konvention entsprechen müssten. Außerdem brauche man lebende und gesunde russische Gefangene für einen Austausch gegen die von den Russen gefangenen Ukrainer.
Umgang mit Gefangenen in der Ukraine und in Russland
In einem DW-Interview stellte die Leiterin der UN-Mission für Menschenrechte in der Ukraine, Matilda Bogner, fest, dass die Haftbedingungen für russische Kriegsgefangene insgesamt zufriedenstellend seien. Bogner zufolge hätten UN-Beobachter aber auch Informationen darüber erhalten, dass russische Soldaten nach ihrer Gefangennahme misshandelt und gefoltert worden sein sollen.
Es gebe zudem Hinweise, dass auch ukrainische Kriegsgefangene in Russland und in den von Russland kontrollierten Gebieten der Ukraine unmittelbar nach ihrer Gefangennahme gefoltert würden, so Bogner: "Es fehlt an Nahrung und Hygiene, der Umgang seitens der Wärter ist grob." Die UN fordern beide Seiten auf, Kriegsgefangene human zu behandeln und alle angeblichen Fälle von Folter und Misshandlung von Kriegsgefangenen unverzüglich und effektiv zu untersuchen.
Offizielle Angaben darüber, wie viele russische Soldaten in der Ukraine in Haft sind, gibt es nicht. Ihre Anzahl ändert sich aufgrund regelmäßiger Austausche ständig. "Die Hoffnung stirbt zuletzt", sagt der 20-jährige Dmitrij, der ebenfalls auf einen Austausch hofft. Nach drei Monaten Gefangenschaft will er nur noch zurück nach Hause. Und er sagt, er wolle nie wieder in der Armee dienen.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk