Wahl Ägypten
29. November 2011DW-WORLD.DE: Herr Mützenich, sind die Wahlen in Ägypten ein Fortschritt in Richtung Demokratie?
Rolf Mützenich: Sie sind auf jeden Fall in dem Sinne ein Fortschritt, dass sie bislang relativ friedlich abgehalten worden sind. Und es zeigt außerdem, dass es eine große Bereitschaft der Ägypterinnen und Ägypter gibt, wählen zu gehen. Was dann am Schluss das Resultat dieser Wahlen sein wird, muss man dann bewerten.
Auf dem Land ist es noch immer üblich, dass Stimmen gekauft werden – häufig von Abgeordneten, die schon seit Jahrzehnten im Parlament sitzen und Teil des politischen Establishments unter Mubarak waren. Kann man da überhaupt von freien Wahlen sprechen?
Es sind eben Wahlen, die unter einer besonderen Bedingung stattfinden. Und es sind ja nicht nur Wahlen, die möglicherweise in bestimmten Teilen auch durch solche Elemente geprägt werden, sondern sie finden außerdem in einem Umfeld statt, das teilweise zu Gewalt neigt. Von daher ist es letztendlich schwierig, sie mit unseren Wahlen zu vergleichen. Aber dass gewählt wird und viele Menschen bereit sind zu wählen, um eine relativ legitime Repräsentanz auszustatten, das ist schon wichtig.
Neun Monate nach dem Sturz Mubaraks haben viele Menschen – besonders die jungen Ägypter, die bei den Massenprotesten dabei waren - das Gefühl, es habe sich in Ägypten nicht viel geändert. Und es sieht tatsächlich nicht danach aus, dass die Generäle freiwillig auf Macht und Privilegien verzichten werden. Wie beurteilen Sie die Rolle des ägyptischen Militärs?
In der Tat haben viele Menschen gezeigt, dass sie damit nicht einverstanden sind, wie dieser Militärrat in den letzten Wochen und Monaten agiert hat und wie er versucht hat, sich im Vorfeld der Wahl in einer neuen Verfassung bestimmte Freiräume zu sichern. Und unter anderem ist der Protest, den wir jetzt erleben, auch darauf zurückzuführen. Die Militärs werden bereit sein müssen, innerhalb eines repräsentativen Systems, das durch die Politik geprägt ist, den Primat der Politik langfristig anzuerkennen.
Wie sollte man mit den Muslimbrüdern umgehen, die gegenüber westlichen Medien betont 'unislamistisch', ja geradezu pluralistisch auftreten, deren Tochterorganisation in Deutschland aber – wie wir wissen – seit vielen Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet wird?
Ich denke, wir müssen sehr aufmerksam vorgehen und dürfen nicht mit unerfüllbaren Erwartungen herangehen. Nicht von dem einen Extrem, nicht mit ihnen zu reden, zum anderen Extrem übergehen, die Muslimbrüder zu legitimieren. Auf der anderen Seite werden wir erkennen müssen, dass es von Land zu Land auch unterschiedliche Gruppen gibt, die unterschiedlich agiert haben in der Vergangenheit. Ich plädiere seit Jahren dafür, dass wir einen Dialog suchen. Und, wenn dieser Dialog gewünscht wird, müssen wir unseren Gesprächspartnern deutlich machen, welche Erwartungen wir haben. Meine Erwartungshaltung ist unter anderem, deutlich zu machen, dass, wenn zum Beispiel Parteien des politischen Islams in nächster Zukunft unter Umständen wieder abgewählt werden, sie auch ein solches Wahlergebnis akzeptieren. Es ist leicht Sieger zu sein, aber es ist natürlich auch eine Form von Demokratie, zu verlieren.
Als Verlierer des Arabischen Frühlings sehen sich viele Kopten. Bereits 100.000 koptische Christen haben nach Angaben der Menschenrechtsorganisation 'Egyptian Union for Human Rights' Ägypten in den vergangenen neun Monaten verlassen, viele sitzen auf gepackten Koffern. Darf Deutschland, darf die EU darüber hinwegsehen?
Überhaupt nicht. Und ich glaube, wir haben in den vergangenen Wochen - auch Lady Ashton, die hohe Repräsentantin der Europäischen Union hat das getan - deutlich gemacht, dass uns gerade die Frage des Schutzes religiöser und ethnischer Minderheiten in dieser Situation sehr stark zu interessieren hat. Das macht im Grunde genommen die Werte der Außenpolitik letztlich aus – darüber können wir nicht hinweggehen. Es gibt aber auch viele Kopten, die auf dem Tahrir-Platz mit demonstrieren und für ihre eigenen Freiheitsrechte eintreten. Und ich glaube, gerade unter den Jugendlichen ist es klar, dass auch die Kopten in einer neuen Verfassung nicht nur formal geschützt werden müssen, sondern an der gesellschaftlichen Entwicklung teilhaben müssen.
Welche Haltung sollte Deutschland gegenüber den Entwicklungen in Ägypten einnehmen? Nur wenige Parteien dort – beispielsweise die Sozialdemokraten oder die Partei Freier Ägypter bekennen sich zu Bürger- und Menschenrechten, der Trennung von Religion und Staat und der Freiheit des Individuums. Welche Kräfte sollten gestärkt und unterstützt werden?
Ich glaube, das muss man unterschiedlich interpretieren. Wir als Vertreter von Parteien werden Kontakt zu den Kräften halten, mit deren Programmatik, mit deren Werten wir weitestgehend übereinstimmen. Außerdem würde ich dafür plädieren, dass bei relativ freien und fairen Wahlen wir das Wahlergebnis akzeptieren, um den Wählerinnen und Wählern in den Ländern zu signalisieren: Wir akzeptieren diesen Prozess, auch wenn wir uns möglicherweise an der einen oder anderen Stelle in dem Wahlergebnis nicht wiederfinden würden. Wir brauchen letztlich einen weitergehenden Dialog, den wir nicht als einzelne führen sollten, sondern als Europäische Union, gemeinsam mit der Türkei.
Wie kann Deutschland diesen Prozess begleiten und unterstützen?
Wir sollten diese Wahlen aufmerksam beobachten. Auch durchaus sagen, wo es Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Weil wir leider als Wahlbeobachter nicht zugelassen werden, müssen wir uns auf andere Quellen beziehen. Dann müssen wir den Dialog und die Zusammenarbeit auf Regierungsebene suchen. Und die Kräfte unterstützen, die für einen weiteren Wandel eintreten. Das heißt dann aber auch, dass wir uns gegenüber den Gesellschaften öffnen müssen. Wir müssen versuchen, die Perspektiven, die zu diesen Umbrüchen beigetragen haben, nämlich die soziale und wirtschaftliche Entwicklung, im Rahmen unserer Möglichkeiten zu fördern, und wir dürfen uns nicht abschotten. Das ist eine große Aufgabe und betrifft den Agrarmarkt, aber auch den Energiemarkt und viele andere Bereiche.
Das Interview führte Thomas Kohlmann
Rolf Mützenich ist außenpolitischer Sprecher der SPD