1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Winter: "Die sterblichen Überreste fehlten"

Birgit Görtz4. Januar 2014

Der US-Historiker Jay M. Winter schildert, wie der Erste Weltkrieg mit seinen neuartigen Waffen die Kultur des Trauerns verändert hat: Ob Verdun, Holocaust oder 9/11 - was von den Toten bleibt, ist oft nur der Name.

https://p.dw.com/p/1AIAR
Die Eltern (1932) von Käthe Kollwitz, Deutscher Soldatenfriedhof, Vladslo, Belgien (Foto: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
Der Deutsche Soldatenfriedhof in Vladslo, BelgienBild: Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland

DW: Herr Winter, Sie haben große und wichtige Werke über den Ersten Weltkrieg geschrieben. Nun haben Sie die Ausstellung "Missing Sons" in der Bonner Bundeskunsthalle kuratiert. In Bildern erzählen Sie, wie nachhaltig der Erste Weltkrieg das Trauern um die Toten verändert hat. Ausgangspunkt ist die These, dass der Erste Weltkrieg eine Revolution der Kriegsführung darstellt. Welche Gründe sehen Sie dafür?

Kanadische Soldaten bei Passchendale in Flandern, Belgien: Artillerie und Giftgas machten aus den Kriegsschauplätzen an der Westfront einen apokalyptischen Ort. (Foto: Getty Images)
Kanadische Soldaten bei Passchendaele in Flandern, Belgien: Artillerie und Giftgas machten aus den Kriegsschauplätzen an der Westfront einen apokalyptischen OrtBild: Getty Images

Jay M. Winter: Der Erste Weltkrieg ist das, was wir Historiker einen "totalen Krieg" nennen, nämlich einen industrialisierten Krieg unter Industriemächten. Die Produktion von Kriegsgerät konnte je nach Anforderung um ein Vielfaches gesteigert werden, etwa die Waffen, die Geschosse, die auf die kriegsführenden Seiten abgefeuert wurde. Zehn Millionen Menschen starben im Ersten Weltkrieg, und zwar wegen der enormen Menge an Material, das zu Waffen, Artillerie, Gas etc. verarbeitet wurde. Nie zuvor waren so viele Menschen in einem Krieg ums Leben gekommen. Dies ist der Punkt, an dem der Krieg zu etwas Schlimmerem, etwas Monströserem als je zuvor wird.

Aufgrund der neuen Art der Kriegsführung und der durchschlagenden Feuerkraft der Artillerie wurden die sterblichen Überreste ausgelöscht. Was hatte das zur Folge?

Die Opferzahlen waren immens: Eine Million Menschen starben allein in den ersten vier Monaten des Krieges, überwiegend an der Westfront, aber auch an der Ostfront. Es war unmöglich, diese Männer auf Friedhöfen zu bestatten, auf denen man sie später hätte finden und identifizieren können. Grund dafür sind der dynamische Frontverlauf in der frühen Phase des Krieges und der andauernde Artilleriebeschuss in der Phase, als sich an der Front nichts mehr bewegte. Die Friedhöfe waren zu Zielen geworden. Grabstätten verschwanden schlichtweg.

Die Vorstellung, der Verstorbenen zu gedenken, ohne einen Ort zu haben, an dem man gehen kann, ohne einen Körper, um den man trauen kann, stürzte die Hinterbliebenen in eine Krise. So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben. Die einzige Parallele in der Geschichte, die man heranziehen konnte, war der US-amerikanische Bürgerkrieg, in dem 800.000 Menschen starben. Im Ersten Weltkrieg starben aber 10 Millionen Menschen. Es geht sowohl um die schiere Menge, als auch um die Bombardierung der Friedhöfe durch Artilleriefeuer. In der Folge gibt es von der Hälfte der Toten keinerlei sterbliche Überreste. Sie sind buchstäblich verschwunden.

Die Eltern (1932) von Käthe Kollwitz, Deutscher Soldatenfriedhof, Vladslo, Belgien (Foto: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland)
Die Skulptur "Die Eltern" zeigt die Künstlerin Käthe Kollwitz und ihren Ehemann in tiefer Trauer um ihren Sohn Peter, der im Oktober 1914 in Flandern starbBild: Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland

Eine neue Kultur des Trauerns

Also hat der Erste Weltkrieg nicht nur die Art der Kriegsführung revolutioniert, sondern auch die Kultur des Trauerns?

Vor allem hat der Krieg den Tod demokratisiert. 1914 markiert den Beginn des massenhaften Sterbens. Es kämpften nicht mehr professionelle Armeen, sondern riesige Heere. Die große Schwierigkeit aber bestand darin, dass es keinen Ort für die Trauer gab. Wo soll man trauern, wenn es keine sterblichen Überreste gibt oder wenn der Tote hinter feindlichen Linien liegt? Die seit Jahrhunderten gängigen Rituale der Trauer passten nicht mehr. Auf der Suche nach neuen Antworten wandten sich manche sehr ungewöhnlichen Praktiken zu wie dem Spiritualismus, in dem man versuchte, in Séancen Stimmen aus dem Jenseits zu hören oder Botschaften aus dem Jenseits. Das alles sind Anzeichen einer kulturellen Krise.

Auch im Holocaust, im Vietnam-Krieg, am 11. September 2001 verschwanden die Toten. Ist das eine Kontinuität, die den Ersten Weltkrieg mit unserer heutigen Zeit verbindet?

Ich denke, was den Ersten Weltkrieg mit der Gegenwart verbindet, ist der Kult um die Namen. Die Namen bedeuten alles. Wir begegnen ihnen an Gedenkstätten, in Kirchen, in Deutschland, überall in der Welt. Sie stellen einen Weg dar, die Toten in einem metaphorischen Sinne nach Hause zu bringen.

Ehrenmal für die Kriegstoten des Ersten Weltkriegs Friedhof Tyne Cot, Belgien (Foto: Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland)
Die britische Kriegsgräberstätte in Tyne Cot in Flandern, BelgienBild: Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland

Warum der Zweite Weltkrieg den Ersten überlagert

In Deutschland ist der Erste Weltkrieg gewissermaßen in Vergessenheit geraten, weil er vom Zweiten Weltkrieg und vom Holocaust überlagert wird. Wie erklären Sie das?

Das Spektrum des Erinnerns an den Zweiten Weltkrieg ist überwältigend. Ich selbst komme aus einer Familie von Holocaust-Opfern. Ich bin nicht wirklich in der Lage, über den Zweiten Weltkrieg zu schreiben, also widme ich mein Leben der Erforschung des Ersten Weltkriegs, um dem Horror zu entgehen, der meine Familie zerstörte.

Die Vorstellung ist weit verbreitet, dass der Zweite Weltkrieg so schrecklich war, dass er die Sicht auf Ereignisse eintrübt, die vorher kamen und in gewisser Weise auch danach. Ich denke, man muss diese Dinge getrennt betrachten, dass 1914 sozusagen die "Urkatastrophe" war, der Beginn eines Jahrhunderts, das noch schlimmere Dinge hervorbrachte.

Ein Modell der Twin-Towers mit Bildern von tausenden Opfern des Terroranschlages vom 11. September 2001. (Foto: Per Henriksen, aufgenommen in der Bundeskunsthalle der Bundesrepublik Deutschland)
Ein Modell der Twin-Towers mit Bildern von tausenden Opfern des Terroranschlages vom 11. September 2001Bild: DW

Stimmen Sie der These zu, dass der Erste Weltkrieg die Spaltung Europas markiert und wir heute Zeuge der Wiedervereinigung des Kontinents sind?

Im Ersten Weltkrieg wurde die erste Phase der Globalisierung zerstört. Nun erleben wir eine zweite Phase der Globalisierung. Die europäische Einigung heute zeigt in gewisser Weise, was hätte sein können, wäre der Erste Weltkrieg nicht gewesen. Doch es kamen das Jahr 1914, die Weltwirtschaftskrise, die Nazis. Wir haben ein ganzes Jahrhundert gebraucht, um dahin zu kommen, wo wir 1914 schon waren. Der Glaube an militärische Werte, der Glaube, Armeen könnten die Welt im positiven Sinne verändern, führte zu solchem Leiden, zu solchem Verlust an Leben. Das Experiment Europa basiert auf der Idee, dass die Mitgliedsstaaten auf absehbare Zeit niemals gegeneinander Gewalt anwenden werden. Meiner Ansicht nach bedeutet das, dass meine Enkelkinder in einer besseren Welt leben.