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Wie Russland sich den Taliban annähert

Mikhail Bushuev
4. Juni 2024

Russland intensiviert seine Beziehungen zu den Taliban. Am Wirtschaftsforum in St. Petersburg nimmt eine Taliban-Delegation teil. Zuvor hatten Russlands Behörden angeregt, die Bewegung von der Terrorliste zu streichen.

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Zwei Mitglieder einer Taliban-Delegation mit einem Bild, auf dem Afghanistan steht, bei Gesprächen im russischen Kasan im September 2023
Eine Taliban-Delegation bei Gesprächen im russischen Kasan im September 2023Bild: Yegor Aleyev/TASS/dpa/picture alliance

Der erste Besuch einer Delegation der Taliban-Regierung aus Afghanistan beim Wirtschaftsforum in St. Petersburg 2022 sorgte innerhalb wie auch außerhalb Russlands für einiges Aufsehen. Zwei Jahre später reisen erneut Taliban-Vertreter zu dem Forum, das vom 5. bis 8. Juni stattfindet. Das wäre kaum aufgefallen, hätten nicht kurz vorher das Justizministerium und das Außenministerium dem russischen Präsidenten vorgeschlagen, die Taliban von der Liste verbotener Organisationen zu streichen. Wladimir Putin äußerte sich nicht direkt dazu, erklärte jedoch, dass es notwendig sei, "Beziehungen" zu den Taliban wie auch zur "aktuellen Regierung" in Afghanistan aufzubauen.

Was bedeutet das? Er kenne zwar die internen Entscheidungsprozesse im russischen Außenministerium nicht, sagt Hans-Jakob Schindler, Nahostexperte von der internationalen Organisation Counter Extremism Project (CEP). Es sei aber anzunehmen, dass Russland für das Angebot, die Taliban von der Terrorliste zu streichen, "eine Gegenleistung" erwarte. Das könne allerdings Probleme aufwerfen: "Die Taliban sind immer sehr gerne bereit, Vorleistungen anzunehmen, aber bei Gegenleistungen wird es dann sehr kompliziert mit ihnen."

Der deutsche Afghanistan-Experte Thomas Ruttig sieht in der Initiative des Kremls "eine Art Salamitaktik: Ganz kleine Schritte in Richtung einer offiziellen Anerkennung - was der Taliban durchaus gefällt".

Ein Geschenk für die Taliban?

Der nächste Schritt nach der Streichung von der Terrorliste könnte die Anerkennung der Taliban als legitime Staatsmacht in Afghanistan sein, glauben die Experten.

Informelle Kontakte zwischen Russland und den Taliban werden seit 2015 beobachtet. Zudem besteht der Verdacht, dass Russland Waffen an die Taliban geliefert hat. Offizielle diplomatische Beziehungen haben beide Seiten im März 2022 aufgenommen. Sechs Monate vorher, im August 2021, hatten Taliban-Kämpfer die Macht von der afghanischen Regierung übernommen - ohne auf großen Widerstand zu stoßen. Militärkontingente und Vertreter westlicher Länder, die die bisherige Regierung unterstützt hatten und rund 20 Jahre in Afghanistan gewesen waren, verließen eilig das Land.

Die Taliban hatten bereits von 1996 bis 2001 in Afghanistan geherrscht. Die erneute Machtübernahme zwei Jahrzehnte später bedeutete die Rückkehr der Scharia und die Einschränkung vieler Grundrechte, insbesondere von Frauen und Mädchen. Kein Staat hat die Taliban seitdem als legitime Regierung anerkannt und in Russland steht die Bewegung seit 2003 auf der Liste der verbotenen Organisationen.

Ein Blick in den Saal des UN-Sicherheitsrates in New York. Auf Stühlen sitzen Menschen.
Der UN-Sicherheitsrat forderte im März 2023 von Afghanistan, die repressiven Gesetze gegen Frauen aufzuhebenBild: Ed Jones/AFP/Getty Images

Aber die internationale Front gegen das Regime bröckelt. Als erster Staat gab Russlands Nachbar Kasachstan gab am 3. Juni bekannt, die Taliban von der nationalen Liste terroristischer Organisationen zu streichen.

Könnte nun auch der Kreml beim Wirtschaftsforum in St. Petersburg verkünden, die Taliban würden in Russland künftig nicht mehr als Terrororganisation eingestuft? Experten halten das für möglich. Der Kreml stecke aber in einem Dilemma, meint Hans-Jakob Schindler: Einerseits sei es ein "ungeschickter Schachzug", diesen Schritt anzukündigen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten. "Andererseits kann man natürlich keine großartigen Wirtschaftsverträge mit einer Organisation unterschreiben, die offiziell noch auf der nationalen Terrorliste steht."

Mehr Handel zwischen Kabul und Kreml

Schindler sieht in der russischen Annäherung an die Taliban einen politischen Schritt mit absehbaren Risiken für Russland. "Ob die Taliban jetzt von der russischen nationalen Terrorliste gestrichen werden oder nicht, ist relativ unerheblich, solange der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York die Taliban weiterhin auf einer Sanktionsliste führt" - denn die sei für Russland "rechtlich verbindlich". Um nicht gegen UN-Sanktionen zu verstoßen, hat die russische Seite nach Informationen der DW aus offen zugänglichen Quellen Taliban-Vertreter nach St. Petersburg eingeladen, für die keine personenbezogenen internationalen Sanktionen gelten.

Aus Expertensicht wird sich durch die Streichung von der Liste praktisch kaum etwas ändern. Aber es trage dazu bei, die künftigen Beziehungen zu stärken. Laut russischen Angaben sei allein im vergangenen Jahr der Handelsumsatz zwischen den Ländern um das Fünffache gestiegen und habe die Marke von einer Milliarde US-Dollar überschritten, so Schindler. Dabei sei "eine Milliarde US-Dollar Umsatz für die afghanische Wirtschaft enorm, aber für die russische Wirtschaft relativ unerheblich".

Die Annäherung an die Taliban sei Ausdruck der außenpolitischen Strategie sowohl Russlands als auch Chinas, sagt Thomas Ruttig: Nach dem Abzug der westlichen Koalition wollten sie die Taliban in die antiwestliche Staatengemeinschaft einbinden. Moskau und Peking versuchten, das hinterlassene Vakuum zu füllen.

Das habe auch wirtschaftliche Gründe, so Hans-Jakob Schindler. Sie beruhten auf der Annahme, "dass in der afghanischen Erde eine ganze Reihe von strategischen Rohstoffen liegen, die man bei einer Befriedung Afghanistans und dem Bau adäquater Infrastruktur langfristig ausbeuten" könne. Thomas Ruttig ergänzt: Afghanistan sei für Russland außenpolitisch keine Priorität, doch Moskau habe ein Interesse daran, dass dort ein Infrastruktur-Hub entstehe.

Taliban als Verbündete gegen Terror

Eine Rolle spielt auch der Terroranschlag im Moskauer Konzertsaal Crocus City Hall am 22. März 2024, zu dem sich der sogenannte "Islamische Staat Provinz Khorasan" (ISPK) bekannte. Die russische Führung habe erkennen müssen, meint Schindler, dass mit diesem Ableger des "Islamischen Staates" von Afghanistan wieder eine Terrorgefahr für andere Länder ausgehe. Das habe Moskaus "natürliches Interesse" an engeren Kontakten mit dem jetzigen Regime in Kabul verstärkt, so Ruttig. 

Krankenwagen stehen vor der brennenden Konzerthalle Crocus City Hall bei Moskau
Am 22. März 2024 brannte die Konzerthalle Crocus City Hall bei Moskau nach einem Terroranschlag mit mindestens 145 Toten völlig ausBild: Maxim Shemetov/REUTERS

Die beiden Experten schätzen allerdings unterschiedlich ein, inwieweit die Taliban Moskau helfen können, die terroristische Bedrohung einzudämmen. Ruttig betont, die Taliban täten alles, um den "Islamischen Staat" zu bekämpfen. Schindler glaubt, dass Moskau "der gleichen Fehlannahme wie viele im Westen" unterliege, dass die Taliban den 'Islamischen Staat Provinz Khorasan' ablehnten. Das stimme so nicht: Erstens seien viele ISPK-Mitglieder ehemalige Taliban. Zweitens stünden viele Taliban dem "Islamischen Staat Provinz Khorasan" ideologisch nahe. Druck auf sie könne dazu führen, dass weitere Teile der Taliban zu dieser Gruppe überliefen. Schindler Fazit: Damit ihr Regime überlebe, müssten die Taliban ihren Kampf gegen den "Islamischen Staat Provinz Khorasan" "sehr fein austarieren".

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk