Schwedt an der Oder und die Druschba-Krise
2. Juli 2019Vom "Kanal" aus, wie die Einheimischen die Hohensaater-Friedrichsthaler-Wasserstraße der Einfachheit halber nennen, kommt man mit dem Ruderboot eigentlich überall hin. "Wir befinden uns hier bei Kilometer 121,5", sagt Rainer Göllnitz. "Die Null steht in Spandau an der Schleuse. Über das Schiffshebewerk gelangt man nach Berlin." Göllnitz, ein sportlicher Typ mit Brille, wirft einen Blick über den Kanal auf das Naturschutzgebiet und die wild bewachsenen Polderwiesen. Von dort sind es nicht mal mehr fünf Kilometer bis nach Polen.
Göllnitz ist passionierter Ruderer. In seiner Freizeit trainiert er Jugendliche beim Wassersport PCK Schwedt e. V. Wenn er nicht mit dem Boot unterwegs ist, arbeitet er als Verfahrenstechniker in der PCK-Raffinerie der Oderstadt Schwedt. Seit 20 Jahren ist der gebürtige Schwedter bei dem Erdölverarbeitungswerk tätig, das in Teilen europäischen Mineralölfimen und dem russischen Rosneft-Konzern gehört.
Ende April ist in einer von Göllnitz‘ Welten etwas Unvorhergesehenes passiert. "Ja, wir hatten kontaminiertes Öl", gibt der Verfahrenstechniker zu. Er bleibt bei dem heiklen Thema wortkarg. Verunreinigtes Öl ist durch die Pipeline Druschba (das russische Wort für Freundschaft) gen Westen gelangt: Insgesamt sollen rund fünf Millionen Tonnen Rohöl im Wert von 2,6 Milliarden Dollar (2,2 Milliarden Euro) kontaminiert gewesen sein. Laut Experten hat es Vergleichbares in diesem Ausmaß noch nie gegeben, nicht einmal während des Zerfalls der Sowjetunion. Die akute Krise währte gut sieben Wochen, es kam zwischenzeitlich zu einem Lieferstopp.
Ungelöste Probleme
Die Druschba-Pipline ist mit ihren 5500 Kilometern eine der längsten der Welt. Deutschland bezieht etwa 36 Prozent seines Rohöls aus Russland. Ein großer Teil davon wird über Druschba transportiert. Diese verzweigt sich in Weißrussland. Der nördlichere Strang versorgt Polen und Deutschland. Die südliche Abzweigung führt in die Slowakei, nach Ungarn und Tschechien.
Seit dem Ausbruch der Krise sind rund zehn Wochen vergangen. Weil nun wieder Öl fließt, ist es in Deutschland um das Thema noch stiller geworden als während des Lieferausfalls selbst. Dennoch ist das Problem bei weitem nicht gelöst. Alexander von Gersdorff, Sprecher des deutschen Mineralölwirtschaftsverbandes, befürchtet, es könnte August werden, bis die Pipeline wieder "mit voller Kapazität arbeitet".
Unklar ist auch, wie die Verhandlungen zwischen dem russischen staatlichen Pipeline-Monopolisten Transneft, von dem die Druschba-Pipeline betrieben wird, und seinen deutschen Partnern ablaufen und wie hoch die Entschädigungszahlungen ausfallen könnten. Niemand hat bisher offen die Frage gestellt, ob wegen des Druschba-Debakels die Spielregeln für die Öllieferungen aus Russland geändert werden sollten.
Irreführende Stille
Was ist passiert: Am 19. April 2019 beschwerte sich der staatliche weißrussische Ölkonzern Belneftekhim über einen "abrupten Qualitätsabfall" des aus Russland stammenden Erdöls. Am 23. April sperrte der polnische Betreiber PERN S.A. seinen Abschnitt der Pipeline.
Die PCK-Raffinerie in Schwedt, mehrheitlich im Besitz des russischen Staatskonzerns Rosneft, schwieg trotz der ernsten Lage beharrlich. Die Raffinerie arbeite planmäßig mit geringerer Kapazität, hieß es lapidar. Auf der Webseite des Werks: Kein Wort zum kontaminierten Öl.
Auf schriftliche Anfrage der DW an PCK-Geschäftsführer Wulf Spitzley antwortet Roswitha Flöter von der Unternehmenskommunikation am 18. Juni nur lapidar. Die Versorgung mit Rohöl sei wieder angelaufen, die Raffinierie sei im gesamten Zeitraum "sicher und ohne Schäden" betrieben worden. Fragen nach möglichen Verlusten wurden gar nicht beantwortet.
Die Pipeline aus der DDR
Die Druschba-Pipeline hat eine besondere Geschichte. Sie entstand auf Initiative der DDR Ende der 1950er Jahre als Gemeinschaftsprojekt der sozialistischen Staaten. Standort des Kombinats wurde Schwedt an der Oder. Baubeginn war 1960, das erste Öl floss 1962.
"Die Raffinerie wurde nach Schwedt geholt, weil es hier viel Wasser gibt", erinnert sich Dieter Pohlann, ehemaliger Betriebsleiter bei Mineralölverbundleitung GmbH Schwedt und heute Präsident der Schützengilde PCK Schwedt 1812 e.V. Schwedt hatte damals einen weiteren Standortvorteil: Es lag unmittelbar an der Grenze zur Volksrepublik Polen.
Noch heute liegt das Werk außerhalb des Stadtzentrums - dort, wo es früher einen markgräflichen Kiefernwald gab und zahlreiche rosablühende Tabakfelder. Der 1967 geborene Rainer Göllnitz erinnert sich noch an die Tabakscheunen, die er als Kind gesehen hat.
Wichtiger Arbeitgeber
Heute zählt die Schwedter Raffinerie rund 1200 Mitarbeiter. Außerdem gibt es auf dem Gelände zahlreiche Subunternehmen und Dienstleister mit etwa 2000 Beschäftigten. Für den Landkreis Uckermark, für Brandenburg und letztlich für Ostdeutschland ist das ölverarbeitende Werk in Schwedt extrem wichtig. PCK ist der größte Arbeitgeber der rund 31.000 Einwohner zählenden Stadt. Es gibt Familien, die seit Generationen bei PCK arbeiten. Die Stadt selbst hat nicht so viel zu bieten. Im Zentrum gibt es zwei, drei kleine Cafés, ein Gasthaus, ein paar Lädchen. An einem Schaufenster hängt ein handgeschriebener Zettel. Darauf steht auf Polnisch: "Sklep dla każdego" ("Geschäft für alle").
"Nicht unser Thema"
Vica Fajnor, Leiterin für PCK-Pressestelle, wehrt rund acht Wochen nach Beginn der Krise alle Fragen zum Druschba-Debakel ab. "Wir verarbeiten Rohöl, das unseren Gesellschaftern gehört", erklärt sie der DW-Reporterin in ihrem Büro auf dem PCK-Gelände. "Von daher ist es wirklich nicht unser Thema." Auch der Schwedter Bürgermeister Jürgen Polzehl sieht "keinen Bedarf", mit der DW über die Rolle von PCK für die Stadtentwicklung zu reden, teilt seine Pressestelle mit.
"Ich weiß, dass es einen Lieferstopp gab und dass die Kontamination wohl auch Schäden in der Raffinerie angerichtet hat", sagt hingegen der 76-jährige Joachim Kolenda. Er war mehrere Jahre bei der PCK im Bereich Investitionen tätig und leitet nun den Seniorenverein PCK e. V. Wie hoch die Schäden sein könnten, kann er allerdings nicht beziffern.
Konkreter äußert sich Dieter Pohlann, der auf dem Gelände der Schwedter Schützengilde anzutreffen ist. "Die PCK-Anlage Rohöl 1 muss außer Betrieb gewesen sein, die Rohöl 3 hat weitergearbeitet. Dann kam das schlechte Öl, und man musste sich entscheiden, was man weiter macht", erzählt er. So wie er das mitbekommen habe, gab es an den Bohrlöchern "kleine Mengen" verunreinigtes Öl, die man "einfacher behandeln" konnte. "Zumindest an den Sammelstellen wurde dann gereinigt."
Die Gefahr entsteht durch Blausäure
Organische Chlorverbindungen, die das Öl kontaminiert haben, sind nur in bestimmten Fraktionen und unter bestimmten Temperaturen gefährlich, erklärt Pohlann. Beim Erdöltransport spiele es keine große Rolle, weil man die Rohre und die Pumpen mit den Reinigungsmitteln wieder sauber machen könne. "Aber wenn es dann in die Destille kommt, wird es erwärmt, und dann entsteht Blausäure, die hoch aggressiv ist". Sie könne eine starke Korrosion verursachen, sagt Pohlann.
Auf diese Weise sind anscheinend große Schäden bei der Raffinerie im weißrussischen Masyr entstanden. In Schwedt wurde man aber von den polnischen Betreibern rechtzeitig gewarnt. Das Schlimmste konnte so wohl verhindert werden.
In der akuten Phase der Krise war Rainer Göllnitz in seinem Labor intensiv beschäftigt. "Es gab deutlich mehr Arbeit als sonst." Kontrollen, Untersuchungen, Analysen. "So eine Analyse dauert im Schnitt einen halben Tag." Wenn man wusste, was im Öl drin war, musste man das heruntermischen.
Lieferungen aus Rostock
Als die PCK mit dem Lieferstopp aus Russland konfrontiert war, sah sich das Werk gezwungen, Rohöl über den Überseehafen Rostock zu beziehen. Genaue Angaben zu den Mengen will PCK-Pressesprecherin Fajnor nicht machen. Auch Burkhard Woelki, Kommunikationschef von Rosneft Deutschland, nennt in einem Telefonat keine konkreten Zahlen, weil dies "wettbewerbsrechtliche Auswirkungen" haben könnte.
Nach Meinung von Joachim Kolenda, dem ehemaligen PCK-Mitarbeiter, schafft die Rostock-Pipeline "maximal 60 Prozent" des Transits. Mit dieser Auslastung könne PCK gerade noch wirtschaftlich arbeiten, meint er. Nach seiner Einschätzung konnten zu dem Zeitpunkt des Druschba-Lieferstopps "rund 20.000 Tonnen am Tag" von Rostock gepumpt werden.
Einen Großteil der technischen Probleme vor Ort hat man inzwischen gelöst. Für die, die es noch gibt, wird man in absehbarer Zeit eine Lösung finden. Aber bei der Druschba-Krise geht es weniger um fachliche Lösungen, sondern um das korrodierte Image des russischen Öl-Lieferanten und die mangelnde Transparenz, die deutsche Raffinerien und ihre Gesellschafter gezeigt haben. Über die langfristigen Konsequenzen der Pipeline-Krise will aber heute niemand reden.
"Setschin ist wohl mit einem Hubschrauber eingeflogen"
Seit Januar 2017 gehört die PCK in Schwedt mehrheitlich (54,17 Prozent) dem russischen Mineralölkonzern Rosneft. Anfang 2018 empfing die Raffinerie den Rosneft-Chef Igor Setschin. "Er ist hier wohl mit einem Hubschrauber eingeflogen" und "hat sich alles angeguckt", sagte Dieter Pohlann.
Laut PCK-Pressesprecherin Vica Fajnor hat der Rosneft-CEO angekündigt, am Schwedter Standort 600 Millionen Euro investieren zu wollen. Um es in Relation zu setzen: Seit 1990 sind insgesamt rund 2,7 Milliarden Euro in die Raffinerie investiert worden.
Auch die Lokalpolitiker sehen Russland weiterhin als zuverlässigen Partner. Für den Fraktionschef der SPD im Brandenburger Landtag, Mike Bischoff, hat die Druschba weder wirtschaftlich noch politisch an Bedeutung eingebüßt, "denn es ist nach wie vor eine Pipeline, die unsere Länder verbindet".