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Wie Jugendliche in Russland zu "Saboteuren" werden

Alexey Strelnikov
19. Oktober 2024

In Russland gibt es seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine immer häufiger Brandanschläge auf Eisenbahn und Militär, verübt durch Minderjährige. Angeworben werden sie zum Teil mit Geldversprechen über Telegram.

Anonymes Portrait einer Person als schwarzer Scherenschnitt
Anonyme Auftraggeber bieten auf Telegram feste Summen für bestimmte SabotageakteBild: dpa

In Russland häufen sich Sabotageakte, meist Brandanschläge gegen die Eisenbahn und das Militär, an denen Minderjährige beteiligt sind. Die Behörden behaupten, entsprechende Aufträge würden sie von "pro-ukrainischen Kuratoren" in sozialen Netzwerken erhalten. Mit Propagandavideos drohen die Behörden nun Jugendlichen und laut einem Gesetzentwurf sollen künftig schon 14-Jährige wegen "Sabotage" bestraft werden können. Menschenrechtler warnen unterdessen vor Provokationen russischer Sicherheitskräfte.

Die DW ist mehreren Verfahren gegen russische Jugendliche nachgegangen und hat Kontakt zu einem Telegram-Kanal aufgenommen, wo Geldprämien für Brandanschläge auf militärisches Gerät angeboten werden.

Festnahmen nach Brandanschlag

In einem Hinterhof eines Wohnviertels in der Stadt Omsk hält ein Kleinbus, aus dem sechs bewaffnete Männer einer Spezialeinheit springen. Sie laufen in ein Haus, wo sie eine Wohnungstür aufbrechen und zwei Jugendliche vorfinden. Sie drücken sie zu Boden und verhören sie. In der von Sicherheitskräften gedrehten Aufnahme, die auf Telegram-Kanälen verbreitet wurde, gestehen die jungen Leute, einen Militärhubschrauber angezündet zu haben. Dafür soll ihnen eine unbekannte Person über Telegram 20.000 Dollar geboten haben, die sie aber nicht erhalten hätten. Gegen die Jugendlichen wurde ein Strafverfahren wegen Terrorismus eingeleitet und nun sitzen sie für mindestens zwei Monate in Untersuchungshaft.

Nach Angaben der Behörden wurde am 21. September auf einer Militärbasis in Omsk ein Mi-8-Hubschrauber mit einem Molotowcocktail in Brand gesetzt. Ein ziviler Hubschrauber des gleichen Typs brannte im September im Flughafen Nojabrsk im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen aus. Zwei Jugendliche wurden noch vor Ort festgenommen. Sie hatten Verbrennungen im Gesicht und an den Händen erlitten, als sie den Hubschrauber anzündeten. Auch sie gaben zu, den Auftrag dazu über Telegram erhalten zu haben. Zuvor hatten sie laut eigenen Angaben in der Toilette ihrer Schule einen Flyer mit einem QR-Code gefunden. Über den hätten sie die unbekannte Person kontaktiert, die ihnen für die Tat Geld versprochen habe. Ähnliche Flyer sollen Medienberichten zufolge in mehreren russischen Regionen gefunden worden sein, darunter in Wolgograd, Woronesch und Rjasan.

"Bot für Schulkinder, die Geld brauchen"

Die DW nahm unter dem Deckmantel eines Schülers aus St. Petersburg Kontakt zu einem solchen Telegram-Kanal auf. Der Chat begann mit der automatischen Begrüßung "Bot für Schulkinder, die Geld brauchen". Für Brandanschläge werden dort folgende Summen geboten: 5000 Dollar für einen Hubschrauber, 10.000 Dollar für ein Flugzeug, 3000 Dollar für einen Transformator und 4000 Dollar für Stromleitungen.

Der Chatpartner fragte gleich, woher der Schüler komme und welche "Objekte" sich in seiner Nähe befänden. Für die Zerstörung militärischen Geräts und ein Video als Nachweis wurde die Überweisung von sogar 150.000 Dollar aus einem Krypto-Wallet auf ein beliebiges Bankkonto versprochen. Weiter gab der Chatpartner genaue Anweisungen, wie ein Objekt mit einer Gasflasche zerstört werden kann. Er schrieb, nur zehn Prozent der Aufträge seien bisher gescheitert. Im Falle einer Festnahme durch die Polizei würde es aber "keine wirkliche Strafe" geben.

Eine Person mit Kapuze tippt auf der Tastatur eines Laptops
Jugendliche werden oft in anonymen Chatrooms rekrutiertBild: Jakub Porzycki/NurPhoto/picture alliance

Am Ende des Chat stellte sich der DW-Journalist namentlich vor und bat um eine Stellungnahme. Der Unbekannte erklärte nur, dass er für "eine bestimmte Organisation" arbeite, deren Vertreter in verschiedenen Ländern ansässig seien. Man versuche so, möglichst viel militärisches Gerät zu zerstören, das gegen die Zivilbevölkerung in der Ukraine eingesetzt werden könne. "Warum Jugendliche? Weil sie nur minimal zur Verantwortung gezogen werden können", schrieb der Unbekannte.

Wer verbirgt sich hinter den Chats?

Die Admins solcher Telegram-Kanäle zu identifizieren, sei fast unmöglich, erklärt der Sicherheitsexperte und Leiter der Non-Profit-Organisation "Internet Protection Society", Michael Klimarev. Sie würden Minderjährige manipulieren und dabei von einem "Kampf gegen die russischen Besatzer" sprechen. "Sie bringen die Jugendlichen dazu, Dinge zu tun, die sie selbst nicht riskieren würden, und so ruinieren sie ihr Leben. Es ist kein Zeichen von Mut, Kinder für so einen Kampf einzuspannen", so Klimarev.

Ein technischer Experte der russischen Menschenrechtsinitiative "NetFreedomsProject", der namentlich nicht genannt werden will, meint hingegen, dass es mit Hilfe der Unternehmensführung von Telegram möglich wäre, Personen und ihre Aufenthaltsorte festzustellen. "Nur so kann man herausfinden, wer hinter den Telegram-Chats steckt, ob sie im Ausland sitzen oder ob es sich um Provokateure in Russland handelt", so der Experte.

Russischer Geheimdienst im Verdacht

Das Russische Freiwilligenkorps, das aus russischen Staatsbürgern besteht und auf der Seite der Ukraine kämpft, zeigt in seinem Telegram-Kanal mehrere Videos von Sabotageakten gegen die russische Eisenbahn. Ein Gesprächspartner der DW, der dem Korps nahesteht und anonym bleiben möchte, sagt, die Beteiligung Minderjähriger und Amateure an Sabotageakten sei innerhalb des Korps umstritten. "Ein Profi ist gut vorbereitet und weiß, worauf er sich einlässt", betont er. Für diejenigen, die Jugendliche rekrutieren, sei dies aber eine kostengünstige Methode, zudem würden mit Bränden Ziele schnell erreicht. Dem Gesprächspartner zufolge könnten die anonymen Telegram-Kanäle auch vom russischen Geheimdienst selbst organisiert sein, um Verfahren gegen junge "Träumer" zu fabrizieren.

Bildschirm eines Smartphones mit dem Logo des Telegram-Messengers
Der Telegram-Messenger zählt trotz Sicherheitsmängeln zu den wichtigsten Kommunikationskanälen vieler Oppositioneller weltweitBild: Infinity News Collec/imagebroker/IMAGO

Laut dem Menschenrechtsprojekt "Avtozak LIVE" werden in Russland mehr als 550 Personen wegen Sabotageakten und Brandstiftungen gegen Einberufungsstellen der russischen Armee strafrechtlich verfolgt. Eine gesonderte Statistik für Minderjährige gibt es nicht. Und nach Angaben des Projekts "OVD-Info" wurden in Russland seit Kriegsbeginn mindestens 28 Personen wegen Sabotage zu  Haftstrafen verurteilt. Das Gesetz sieht in solchen Fällen Freiheitsstrafen von zehn bis zwölf Jahren vor, sofern die mutmaßlichen Täter das 16. Lebensjahr vollendet haben.

Gegen jüngere Verdächtige werde derzeit noch der Strafartikel "Terrorismus" angewandt, sagt der Leiter des Forschungszentrums "SOWA", Aleksandr Werchowskij. So seien in diesem Jahr in St. Petersburg wegen der Inbrandsetzung eines Relaisschranks zwei 14-Jährige zu zwei beziehungsweise vier Jahren Haft verurteilt worden. Statistiken zu solchen Fällen gebe es nicht, da die Akten nicht öffentlich zugänglich seien, beklagt Werchowskij. Die Staatsduma prüft derzeit einen Gesetzentwurf, der die Altersgrenze für die Strafverfolgung für Sabotage auf 14 Jahre senkt.

Jewgenij Smirnow, Anwalt der Gesellschaft unabhängiger Menschenrechtler "Pervyj otdel" (Erste Abteilung), weist darauf hin, dass der Vorwurf der Beteiligung an einer Terror-Organisation oder von Hochverrat hinzukommen könne, sollten die Ermittler glauben, dass ein Sabotageakt im Auftrag der Legion "Freiheit Russlands" oder einer anderen in Russland verbotenen Organisation begangen wurde. Das würde eine noch härtere Freiheitsstrafe bedeuten. Smirnow sagt, die russischen Behörden würden die Strafen verschärfen und die entsprechende Altersgrenze senken, aber nicht den Grund für die Sabotageakte beseitigen, der im Krieg gegen die Ukraine liege. "Bis Ende des Konflikts erwarte ich keinen Rückgang der Strafverfahren", so der Jurist.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk