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PolitikTürkei

Wie in der Türkei die Selbstzensur gefördert wird

26. August 2024

Eine Frau gibt in der Türkei ein Straßeninterview zur Instagram-Sperre - und wird anschließend festgenommen. Der Prozess gegen sie wird Einfluss darauf haben, ob die Meinungsfreiheit im Land weiter erodiert.

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Dilruba K. während des Interviews im westtürkischen Izmir
Dilruba K. während des Interviews im westtürkischen IzmirBild: Tüylü Mikrofon/Youtube

In der Türkei sind Straßeninterviews eigentlich beliebt, doch in einer Gesellschaft, in der Meinungen nicht überall frei geäußert werden können, scheuen sich viele Menschen mittlerweile davor, sich öffentlich zu äußern. Dilruba K. nahm dagegen kein Blatt vor den Mund: Sie kritisierte Mitte August in Izmir gegenüber einem YouTube-Kanal nicht nur die Instagram-Sperrung durch die türkische Regierung, sondern auch die Staatstrauer für den ehemaligen Hamas-Chef Ismail Hanija, die etwa zur gleichen Zeit angeordnet worden war.

"Wenn wir mitten im 21. Jahrhundert das parlamentarische System verlassen und die Türkische Republik einem einzelnen Mann geben, nutzt er sie auch so, als ob sie der Bauernhof seines Vaters ist", sagte sie. Menschen, die das Verbot richtig fänden, kritisierte sie mit provokanten Worten: "Ihr seid dumm, weil ihr eure freiheitlichen Rechte einer einzelnen Person übergebt und sie über Gott selbst seht." Die Staatstrauer kritisierte sie mit folgenden Worten: "Warum soll ich bitte Trauer empfinden, wenn irgendein Araber gestorben ist? Das interessiert mich doch gar nicht."

"Volksverhetzung und Präsidentenbeleidigung"

Das genügte, um sie wegen "Volksverhetzung und Präsidentenbeleidigung" zu verhaften. Vom zweiten Vorwurf wurde sie wenig später freigesprochen - aber wegen des ersten bleibt sie in Haft und muss sich am 3. September vor Gericht verantworten. Die Anklageschrift bereitete die Staatsanwaltschaft außergewöhnlich schnell vor. In ihrer Verteidigung sagte die junge Frau: "In meinem Interview habe ich keine staatliche Institution oder eine Person angegriffen. Ich meinte nicht den Präsidenten oder eine andere Person." Sie bat um Entschuldigung für ihre Worte, "wenn das falsch rauskam".

Veysel Ok ist Anwalt und hat bereits viele Journalisten in der Türkei vertreten, unter anderem den Welt-Korrespondenten Deniz Yücel, der 2017 und 2018 mehrere Monate wegen "Terrorpropaganda" in türkischer Haft gesessen hat. Die Inhaftierung von Dilruba K.sei unrechtmäßig, betont er. "Es mag sein, dass die Äußerungen jemandem nicht gefallen. Aber: Das alles muss im Rahmen der Meinungsfreiheit betrachtet werden. All die bisher eingeleiteten rechtlichen Schritte haben keine gesetzliche Grundlage", kritisiert Ok.

Diese Meinung teilt auch ein prominenter Abgeordneter der Regierungspartei AKP: "Ich verurteile, was diese Frau sagte. Ich bin sogar wütend darüber. Aber als Rechtswissenschaftler muss ich sagen, dass es keinen Platz für Diskussion gibt: Eine Verhaftung ist falsch", so Mücahit Birinci. Man müsse auch gerecht gegenüber demjenigen sein, auf den man Wut empfindet, so Birinci auf X.

Selbstschutz statt Rechtsstaatlichkeit

Kritiker sehen in der Türkei mittlerweile eine "Regierung-Justiz" am Werk. "Regierungsnahe Verbrecher

werden mit Freisprüchen belohnt, während diejenigen, die ihre kritische Meinung äußern, bestraft werden. Das zeigt, dass das türkische Rechtssystem kein Rechtssystem mehr ist, sondern ein absoluter Schutzmechanismus für die Handlungen und Aussagen der Regierung", so Ok.

Der Politikwissenschaftler Berk Esen von der Sabanci-Universität sieht dies ähnlich. "Es gab früher einige roten Linien für den türkischen Staat - wie Islamismus oder den Genozid an den Armeniern", sagt er. "Abgesehen davon konnte man alles und jeden kritisieren, wie man wollte - auch die Regierungspartei, den Präsidenten, den Premierminister. Heute gibt es keine roten Linien wie früher. Die einzige rote Linie ist, dass die regierende Elite ihre Existenz aufrechterhält. Die Regierung bestimmt heute die Grenzen der Meinungsfreiheit. Sie schränkt jede Meinung ein, die aus ihrer Sicht ihre Existenz gefährden könnte", so Esen.

"Free all jailed journalists"-Plakat bei einer Demonstration in Berlin
​​​​​​Die Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei ist inzwischen ein weltweit bekanntes ProblemBild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Ziel: Einschüchterung

Beobachtern zufolge schüchtert die Regierung mit ihrem Vorgehen Millionen von Menschen ein. "Mit dieser Verhaftung versucht man, die Stimme des Volkes stummzuschalten. Den Menschen wird die Botschaft gesendet, dass sie lieber den Mund halten sollen", so Hüseyin Yıldız, Anwalt von Dilruba K.

Die Verhaftung könnte künftig ein abschreckendes Signal haben, vermutet Esen. "Viele Menschen, die bisher ihre Meinung auf der Straße frei geäußert haben, werden sich nun selbst zensieren. Was die Regierung macht, ist keine Verhaftung einer einzigen Person, sondern die Einschränkung von allen."

Aus Oks Sicht wird die Regierung weiterhin versuchen, kritischen Stimmen zu unterdrücken. "Die Regierung möchte alle öffentliche Kritik auf der Straße zügig stummschalten", so Ok. Das Land befinde sich am Anfang einer neuen Welle der Einschränkung der Meinungsfreiheit:

"Dilruba K. ist nicht die erste oder die letzte. Sie ist eine von zahlreichen Menschen, die heute in der Türkei in Haft sitzen, weil sie ihre Meinung frei äußerten. Das war nur der Anfang. Wir werden in der Zukunft viel mehr solche Fälle sehen, dass jemand nach einem Straßeninterview festgenommen wird."

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.