Trennung durch Schließung der russisch-finnischen Grenze
7. Dezember 2023Ende November ist es in Raja-Jooseppi, am nördlichsten Kontrollpunkt zwischen Finnland und Russland, nur wenige Stunden am Tag hell. Alles ist mit Schnee bedeckt, die Temperatur liegt bei etwa minus zehn Grad. An dem Grenzübergang stehen kurz vor dessen Schließung einige vor Kälte erstarrte Journalisten, die darauf warten, dass Asylsuchende auftauchen. Finnland hatte zuvor entschieden, alle Grenzübergänge zu Russland zu schließen. Begründet wurde diese Entscheidung mit der Zunahme illegaler Grenzübertritte.
Null Asylbewerber kurz vor Schließung
Nachdem Finnland alle anderen Kontrollpunkte an der Grenze zu Russland zum 24. November geschlossen hatte, begaben sich Migranten aus Drittstaaten zu diesem entferntesten Grenzübergang in Lappland, der mehr als 1000 Kilometer von Helsinki und 250 Kilometer von Murmansk in Russland entfernt liegt - und der schließlich am 30. November geschlossen wurde. Insgesamt haben dort in dieser Zeit 63 Menschen Asyl in Finnland beantragt.
Nach Feierabend veranstalten finnische Grenzbeamte für Journalisten kleine Führungen. "Von dort kommen Flüchtlinge", sagt der Leiter des Kontrollpunktes, Vesa Arfmann, und zeigt in Richtung Russland. Dann führt er die Journalisten zu einem Container, in dem zurückgelassene "Transportmittel" gesammelt werden, denn zu Fuß darf die Grenze nicht überquert werden. Dort stapeln sich Fahrräder. "Jetzt sind sie Eigentum des finnischen Staates, vielleicht werden sie versteigert", erklärt Santeri Komu, ein anderer Grenzbeamter.
Außerdem wird ein beheizter Hangar gezeigt, in dem Asylsuchende auf ein Gespräch warten können, bei dem sie gefragt werden, wie sie heißen, woher sie kommen und warum sie Asyl beantragen. Oft wird dabei ein Übersetzer benötigt, der dann von den Beamten angerufen wird. Viele Migranten haben keine Dokumente bei sich, aber nicht alle. So seien vor kurzem seien zwei Männer aus dem Jemen mit Reisepässen angekommen, sagt Komu.
Am Ende der Führung ist es bereits dunkel. An diesem Tag ist kein Asylbewerber eingetroffen. Für Nachzügler ist es nun zu spät: Auch am Kontrollpunkt Raja-Jooseppi stellen die finnischen Behörden ihre Arbeit ein, womit die Grenze zwischen Russland und Finnland komplett geschlossen ist.
Familien werden getrennt
Die Schließung der Grenze ist ein schwerer Schlag für die russischsprachigen Einwohner Finnlands. In dem Land mit fünfeinhalb Millionen Einwohnern gibt es fast 100.000 von ihnen. Viele leben sowohl in Finnland als auch in Russland und es war nichts Ungewöhnliches, über die Grenze ins nahegelegene Wyborg oder nach St. Petersburg zu pendeln.
Viktoria Iljina und Jewgenij Koschewnikow wollten Ende November von Lappeenranta im Süden Finnlands nach St. Petersburg fahren, wo ihr fünfjähriger Sohn Serafim operiert werden sollte. Die Familie ist vor einem Jahr nach Finnland gezogen, aber sie zieht es vor, sich in Russland behandeln zu lassen. "Dort haben wir Ärzte, denen wir vertrauen und die Russisch sprechen", erklärt Iljina. Die Operation musste wegen der Grenzschließung nun verschoben werden.
Auch ein geplanter Besuch bei Jewgenij Koschewnikows Vater, der kürzlich einen Schlaganfall hatte und an Krebs leidet, kann nicht mehr stattfinden. "Ich mache mir große Sorgen, dass sich der Gesundheitszustand meines Vaters weiter verschlechtert und ich nicht bei ihm sein kann", sagt Koschewnikow. "Ich habe schon überlegt, dass ich meine Familie hier lasse, entweder irgendwie rüber nach Murmansk komme oder von Helsinki nach Istanbul fliege, um zu ihm zu kommen."
Russischsprachige demonstrieren
In Lappeenranta gibt es viele solcher Geschichten. Die Stadt liegt 25 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, etwa fünf Prozent der Bevölkerung sprechen dort Russisch. Nach der Schließung von drei südlichen Kontrollpunkten demonstrierten am 19. November russischsprachige Einwohner von Lappeenranta vor dem Rathaus der Stadt.
Einer der Organisatoren war Iwan Dewjatkin. Der junge Mann lebt seit 12 Jahren in Finnland, wo er ein Universitätsstudium abgeschlossen hat. Er spricht fließend Finnisch, arbeitet und hat einen Sohn. Früher beteiligte er sich nie an politischen Aktionen, doch die Schließung der Grenze veränderte alles. Iwan legte seine Arbeit auf Eis und versucht seitdem, die finnischen Behörden dazu zu bringen, ihm und anderen russischsprachigen Einwohnern Gehör zu schenken.
"Es war wie ein Messer in den Rücken, ein Verrat seitens der finnischen Regierung, dass wir nicht berücksichtigt wurden, als ob wir, die russischsprachige Minderheit in Finnland, keine eigenen Interessen hätten", beklagt Dewjatkin. Er möchte mit Politikern ins Gespräch kommen und schlägt vor, gemeinsam über die Öffnung von mindestens einem Grenzübergang im Süden nachzudenken. Seine Mutter, sein Bruder und seine Schwestern leben in Russland. Sie alle hatten vor, gemeinsam Neujahr zu feiern.
Um auf das Problem aufmerksam zu machen, hielt Dewjatkin mit einem Zelt allein 30 Stunden lang eine Mahnwache ab. Genauso lange hätte man auf dem Landweg von Lappeenranta über den Kontrollpunkt Raja-Jooseppi im Norden Finnlands, als dieser noch offen war, nach St. Petersburg gebraucht. Auf seinem Plakat in Schwedisch, der zweiten Amtssprache in Finnland, stand: "Ich liebe Finnland. Aber liebt Finnland mich?" "Diese Frage stelle ich mir jetzt", so Dewjatkin.
Zustrom von Migranten aus Drittstaaten
Die finnischen Behörden begründen die vollständige Grenzschließung damit, dass die nationale Sicherheit dies erfordere. Seit August nahm der Zustrom von Migranten aus Drittstaaten über russisches Territorium deutlich zu. Nach Angaben des finnischen Grenzschutzes kamen in dieser Zeit fast 1000 Asylsuchende über die Russische Föderation ins Land. In den Jahren zuvor waren es nur vereinzelte Migranten.
Helsinki ist überzeugt, dass russische Grenzbeamte die Migranten bewusst ohne Visum in die Europäische Union durchlassen. Der finnische Ministerpräsident Petteri Orpo bezeichnet das Vorgehen Russlands als hybriden Krieg und sieht darin eine Rache für Finnlands Beitritt zur NATO.
"Unser Ziel ist es, Russland zu sagen: Das ist inakzeptabel und muss aufhören!", sagte die finnische Innenministerin Mari Rantanen von der rechspopulistischen Partei "Wahre Finnen" im Gespräch mit der DW. Sie nannte die Schließung der Grenze eine "schwierige Entscheidung" und äußerte die Hoffnung, dass die russische Seite erkennen werde, dass "eine friedliche Grenze in unserem gemeinsamen Interesse liegt".
Kritik an der finnischen Entscheidung
Die Grenzschließung löste sowohl in Finnland als auch im Ausland Kritik aus, was die Achtung der Rechte von Flüchtlingen angeht. So befürchtet die finnische Ombudsfrau für Nichtdiskriminierung, Kristina Stenman, dass der Zugang zum Asylverfahren gefährdet wird. Denn jetzt kann man nur noch am Flughafen in Helsinki und in den Häfen des Landes Asyl beantragen.
Die Abgeordnete des Stadtrats von Lappeenranta von der Partei "Union der linken Kräfte", Katja Marova, sieht innenpolitische Gründe hinter der Entscheidung, die Grenze zu Russland zu schließen. "Wir haben jetzt eine ziemlich rechtspopulistische Regierung. Ihr Wahlkampf stand unter dem Motto 'Grenzen schließen', und sie erfüllen im Wesentlichen ihre Wahlversprechen, ohne sich darum zu kümmern oder darüber nachzudenken, dass es andere Kategorien von Bürgern gibt, deren Interessen und Rechte verletzt werden."
Innenministerin Mari Rantanen versicherte im DW-Gespräch, die Regierung sei sich bewusst, dass ihre Entscheidung "Folgen für Menschen hat, die die Grenze legal überqueren". "Das macht uns große Sorgen, wir bedauern das und hoffen, dass sich die Situation so schnell wie möglich normalisiert und wir die Grenze wieder öffnen können, aber das wird vom Vorgehen Russlands abhängen", so die Ministerin. Finnland könnte jedoch schon am 14. Dezember die Grenzübergänge wieder öffnen, berichtet der finnischer Sender Yle.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk