Wie Deutschland psychisch kranke Täter früher entdecken will
16. Februar 2025Ein Periskop ist für U-Boote oder Panzer ein absolutes Muss und eines der wichtigsten Bordinstrumente. Mit dem Sehrohr können mit einem Blick um die Ecke Gefahren frühzeitig erkannt werden, um Menschenleben zu retten. Kein Zufall also, dass die Polizei in Nordrhein-Westfalen ihr Präventionsprojekt, um schwere Gewalttaten zu verhindern, genauso genannt hat: PeRiskoP, die Abkürzung für "Personen mit Risikopotenzial".
Kriminaloberrat Marc Pawleta, der beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen bei PeRiskoP mitarbeitet, sagt der DW: "Im Bereich des Staatsschutzes sprechen wir von Gefährdern, und hiervon ist PeRiskoP ganz klar abzugrenzen."
Es gehe nicht um Personen, die wegen ihrer religiösen, politischen oder weltanschaulichen Sicht eine Gefährdung darstellten. "Sondern um Menschen, die möglicherweise eine psychische Erkrankung oder einen Hass auf Menschen haben und deswegen jemanden töten oder schaden möchten. Menschen also, die eine schwere zielgerichtete Gewalttat ausüben könnten, wie einen Amoklauf oder einen Anschlag."
Nach den Anschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg mit insgesamt acht Toten diskutiert Deutschland darüber, wie solche Taten passieren konnten - und wie diese in Zukunft verhindert werden können. Als mutmaßliche Täter gelten in beiden Fällen zugewanderte Männer mit psychischen Erkrankungen. Statistiken zeigen eine besorgniserregende Tendenz: Der Anteil psychisch Erkrankter an Straftaten wie Mord oder Totschlag ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich auf rund 16 Prozent im Jahr 2022 angestiegen.
Engere Kooperation mit Behörden
Projekte wie PeRiskoP, mit denen mögliche Straftäter frühzeitig identifiziert werden sollen, beabsichtigen, diesen Trend zu stoppen - durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit Gesundheitsämtern, Schulen, Landeskrankenhäusern und Justizvollzugsanstalten. Und einem Kriterienkatalog, mit dem die Polizei das ausgehende Risiko von möglicherweise gewaltbereiten oder waffenaffinen Menschen mit psychischen Erkrankungen bewertet. Niemand soll mehr durchs Raster fallen.
"Die Chance, solche Taten wie in Magdeburg und Aschaffenburg zu verhindern, würde durch Projekte wie PeRiskoP zumindest erhöht. Aber wir müssen uns auch im Klaren darüber sein, dass es in einem Rechtsstaat keine hundertprozentige Sicherheit geben kann", sagt Pawleta. "Was PeRiskoP aus meiner Sicht auszeichnet, ist, dass wir das Verhalten von Personen und deren Umfeld mit psychologischer Hilfe analysieren, um die richtigen Maßnahmen zu treffen. Aber auch wir können natürlich nur die Informationen nutzen, die uns tatsächlich vorliegen."
Zu wenig Therapieplätze für Jugendliche und Frauen
Der Kriminaloberrat schildert einen typischen Fall für PeRiskoP, dessen Konzept vor drei Jahren in allen 47 Kreispolizeibehörden in Nordrhein-Westfalen eingeführt wurde: Ein Jugendlicher, der in einer psychiatrischen Einrichtung mit einem Amoklauf an seiner Schule drohte, konnte nach einem Austausch mit Jugendamt, Schule und Klinik durch psychotherapeutische Maßnahmen stabilisiert werden. Es geht bei PeRiskoP neben dem Schutz vor Gewalttaten auch darum, psychisch kranke Menschen zu schützen und Stigmatisierungen zu verhindern.
Pawleta mahnt: "Die Polizei kann nicht die einzige Institution sein, um Taten wie Amokläufe oder Anschläge zu verhindern, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Aus meiner Sicht existiert ein Mangel an Therapieplätzen im Bereich der ambulanten Versorgung, vor allem für verhaltensauffällige Jugendliche, aber auch für straffällige Mädchen und Frauen. Darauf ist unser System nach meiner Bewertung nicht so gut ausgerichtet, um den Bedarf, der tatsächlich besteht, zu decken."
Starker Anstieg bei schizophrenen Erkrankungen
Anruf bei Christian Oberbauer, dem Chefarzt und Leiter des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden in Wiesloch. In der größten forensischen Klinik Baden-Württembergs sind 370 stationäre und 160 ambulante Patienten und Patientinnen untergebracht - eine von 78 Einrichtungen in Deutschland für den sogenannten Maßregelvollzug, in den Straftäter mit psychischen Erkrankungen, Intelligenzminderung oder Suchterkrankung eingewiesen und therapiert werden.
Geflüchtete Menschen würden in Wiesloch nicht statistisch erfasst, doch der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund habe sich in den letzten Jahren nur ganz leicht erhöht, sagt Oberbauer der DW. Zwei von drei Kliniken für den Maßregelvollzug klagen laut einer Umfrage über eine deutliche Überbelegung - auch Christian Oberbauer registriert einen steigenden Bedarf. "In den letzten fünf Jahren, seit 2018, 2019 kam es zu einem signifikanten Anstieg der Zugänge bei uns, was uns vor erhebliche Herausforderungen gestellt hat."
Vor allem bei den Patienten und Patientinnen mit schizophrenen Erkrankungen beobachtet der Chefarzt: "Deren Anteil hat bei uns stark zugenommen, von circa 50 auf jetzt knapp 80 Prozent. Sie gehen oft davon aus, keine Erkrankung zu haben, weil sie von der Realität ihrer wahnhaften Ideen oder ihrer Halluzinationen überzeugt sind."
Behandlung mit Medikamenten erfolgreich
Diese sehr misstrauischen Menschen lebten in ihrer eigenen Welt und glaubten, beobachtet oder abgehört zu werden. Sie hörten Stimmen, seien davon überzeugt, ihr Lebenspartner sei vom Teufel besessen, und fürchteten um ihr Leben, so Oberbauer. Doch schizophrene Erkrankungen seien in der Regel gut zu behandeln: neben dem Einsatz von Psychotherapie mit sogenannten Antipsychotika, die bei mehr als 80 Prozent der Betroffenen sehr wirksam seien und das Eintreten neuer Schübe verhinderten oder zumindest reduzierten.
Oberbauer ist aber eines wichtig zu betonen: "Menschen mit psychischen Erkrankungen im Allgemeinen begehen nicht mehr Straftaten als der Durchschnitt der Bevölkerung. Es gibt beim Anteil der schizophrenen Erkrankten allerdings eine kleine Untergruppe, die häufiger fremd-aggressive Gewaltstraftaten begeht, ihr Anteil liegt bei drei bis fünf Prozent."
Mehr Prävention statt Registrierung
Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt hatte der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann gefordert, psychisch kranke Gewalttäter in Deutschland zu registrieren - und dafür heftige Kritik geerntet.
Auch Oberbauer hält von dieser Idee wenig. Zum einen wegen der ärztlichen Schweigepflicht, zum anderen wegen der Stigmatisierung: Jeder dritte Mensch sei einmal im Leben von einer psychischen Erkrankung betroffen.
Es sollte mehr Projekte wie PeRiskoP oder ähnliche Konzepte wie im Bundesland Bayern geben. Dort setze man auf sogenannte Präventionsambulanzen. "Das Präventionsprojekt zielt darauf ab, schwerkranke Menschen, die man als mögliche Risikokandidaten für fremd-aggressives Verhalten identifiziert hat, verstärkt anzusprechen und zu motivieren, sich in Behandlung zu begeben."
Chefarzt Oberbauer betont: "Man muss sich intensiver um den kleinen Teil von Patienten kümmern, bei denen prognostisch absehbar fremd-aggressives oder gewalttätiges Verhalten zu erwarten ist oder mit erhöhter Wahrscheinlichkeit drohen könnte."