1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wie der Tango nach Finnland kam

5. Juli 2023

Leidenschaftliche Tänzer gibt es nicht nur in Buenos Aires, auch die Finnen sind dem Tango verfallen. Einmal im Jahr huldigen ihm seine Jünger beim populären Festival in Seinäjoki.

https://p.dw.com/p/4T7qp
Ein Paar tanzt Tango vor einer roten Wand, man sieht nur die Schattenumrisse
Die Tangomanie grassiert auch in Finnland Bild: Ralf Hirschberger/dpa/picture alliance

In den finnischen Sommernächten, in denen die Sonne nie ganz untergeht, pilgern alljährlich rund 100.000 Finnen nach Seinäjoki zum "Tangomarkkinat". Bei dem fünftägigen Festival im Juli verwandeln sich die Straßen zum gigantischen Tanzsaal. Zum seufzenden Klagen des Bandoneons fallen alte und junge Paare, Profis und Anfänger in den Wiegeschritt. Es ist die Stunde des Tangos, die Stunde der Leidenschaft.

Das Tango-Fieber grassiert in Finnland - und das schon seit über 100 Jahren. Glaubt man dem mehrfach preisgekrönten finnischen Filmemacher Ari Kaurismäki, haben nicht Argentinier, sondern finnische Bauern den Tango erfunden, die damit Wölfe abschrecken wollten. Erst Jahrzehnte später sollen finnische Seeleute die Klagemusik nach Südamerika gebracht haben.

Tango tanzende Menschen auf der Straße
Beim Tango-Festival in Seinäjoki reisen Finnen aus dem ganzen Land anBild: Soile_Kallio/dpa/picture-alliance

"Ein trauriger Gedanke, denn man tanzen kann"

Gern verweisen die Tango-begeisterten Finnen auf diese Theorie, aber in Wahrheit schlug die Geburtsstunde des Tangos in Buenos Aires, im Hafenviertel La Boca. Ende des 19. Jahrhunderts war hier das Auffangbecken für Scharen von Einwanderern, die in der Stadt am Rio de la Plata ihr Glück suchten. Der Tango war ein Geschenk der Immigranten an ihre neue Heimat Argentinien. Sie vermischten die Folklore ihrer Heimat und ihre Instrumente zu einem neuen Klang. 

Carlos Gardel
Carlos Gardel war mit seiner Mutter aus Frankreich eingewandert - und wurde zur Stimme des Tangos schlechthinBild: United Archives/picture alliance

Einer der ganz Großen dieser Kunst, der Komponist Enrique Santos Discépolo, hat einmal gesagt: "Der Tango ist ein trauriger Gedanke, denn man tanzen kann."Und er ist weit mehr als nur ein Tanz: Er besingt die ewige Niederlage des Menschen durch das Leben, den Verrat des Herzens, die Einsamkeit und die Todessehnsucht. Corazón, amor y sangre, zu deutsch Herz, Liebe und Blut - das war der Dreiklang der Einwandererseele, die nach einem Halt in der fremden neuen Welt suchte. 

"Kneipen der übelsten Sorte vorbehalten"

In seiner Anfangszeit schämte sich die argentinische Elite für den ach so obszönen Tango aus den Gossen der Stadt. Denn dort, wo die Einwanderer um ihre Träume von Reichtum betrogen wurden, flüchteten viele ins kriminelle Milieu, gaben sich dem Suff hin, dem Glücksspiel und der Prostitution. 1904 warnte die Polizei vor einem Tanz, der "mit seinen unanständigen Gesten einen Wettstreit von Elementen fördert, die am Ende immer zum Messer greifen."

Lange hat es gedauert, bis der Tango gesellschaftsfähig wurde. Kaiser Wilhelm II. verbot ihn seinen Offizieren, der Papst setzte ihn auf den Index, und noch 1913 verkündete der argentinische Botschafter in Paris: "Der Tango in Buenos Aires ist ein Tanz, der allein schlecht beleumdeten Häusern und Kneipen der übelsten Sorte vorbehalten ist. Er wird nie in den Salons der guten Gesellschaft getanzt. Für argentinische Ohren ist der Tango mit unangenehmen Vorstellungen verbunden."

Geburtsstunde des finnischen Tangos

Die Warnung kam zu spät. Die Tango-Manie erreichte zunächst die Pariser Gesellschaft und eroberte anschließend die Welt. In Finnland soll erstmals ein dänisches Paar im Hotel Börs in Helsinki vor der vornehmen Gesellschaft getanzt haben, so die Überlieferung. 

Ein Paar tanzt Tango
Tango in Perfektion Bild: Ralf Hirschberger/dpa/picture alliance

In den 1920er und -30er Jahren verbreitete sich der Tango am nördlichen Polarkreis, allerdings standen auf dem Repertoire der Tanzorchester insbesondere Tangos aus Deutschland mit "hämmerndem" Rhythmus. Damals war der Tango noch die Musik der urbanen Gesellschaft, auf dem Land blieben die Menschen Walzer, finnischen Jenkkas und Polkas treu.

Die eigentliche Geburtsstunde des finnischen Tangos schlug dann im Zweiten Weltkrieg: An der Front brachte der Komponist Toivo Kärki in den Gefechtspausen Tangos zu Papier wie "Siks' oon mä suruinen" (Darum bin ich traurig), wobei er russische Romanzen und deutsche Marschmusik als musikalische Grundlage nahm. 

"Der finnische Tango ist nur echt in Moll"

Auch nach dem Krieg blieben die Tangos populär, spiegelten die melancholischen Klänge doch die unter Finnen stark verbreiteten Depressionen wider - nicht zuletzt der monatelangen Dunkelheit im Land geschuldet. "Wir sind nur glücklich, wenn wir unglücklich sind", bekräftigte der Komponist Mauri Antero Numminen gegenüber dem Magazin "Der Spiegel". Deswegen sei es kein Wunder, dass die finnische Version weit häufiger in Moll statt in Dur daher komme. "Der finnische Tango ist nur echt in Moll."

Anders als im Tango Argentino finden sich die Schauplätze der Liedtexte nicht in verruchten Kneipen, sondern auf dem Land und in der Natur wieder. Zu Herzen gehend der 1955 erschienen Tango "Satumaa" (Märchenland) aus der Feder von Unto Mononen. Das Lied über die unerreichbare Liebe  wurde zur heimlichen Nationalhymne Finnlands. Was den Argentiniern Carlos Gardel - die Verkörperung des Märchens vom armen Jungen, der zum weltweit gefeierten Star wurde -, ist den Finnen Olavi Virta (1915-1972), der bis heute als ungekrönter Tangokönig gilt.

Beatles und Tango wetteifern in den Charts

In den 1950er Jahren wurden überall im Land Tanzböden errichtet, in jedem Dorf betrieb der örtliche Sportverein eine eigene Bühne, auf der die populären Tango- und Schlagerstars auftraten. Und obwohl in den 1960ern zunehmend englischsprachige Lieder die Charts eroberten, ließ sich der Tango nicht verdrängen. So waren 1963 "All My Loving" von den Beatles und der von Reijo Taipale aufgenommene Tango "Tähdet meren yllä" (Die Sterne über dem Meer) die meist verkauften Songs in Finnland.

Auch nach den 60er Jahren ist der finnische Tango nie verschwunden. Zwar flaute der Boom ab, es gab weniger neue Kompositionen, aber in den Tanzlokalen lebte er weiter. 

Das Tangofestival in Seinäjoki wurde erstmals 1985 ausgerichtet und ist längst eines der größten finnischen Feste. Es gibt einen Kompositions- und einen Gesangswettbewerb, und unzählige Kandidaten und Kandidatinnen hoffen darauf, als Tangokönig oder -königin gekürt zu werden. Das Großereignis wird landesweit im Fernsehen übertragen. Und die Gewinner werden quasi über Nacht berühmt - zumindest in Finnland. 

Suzanne Cords Weltenbummlerin mit einem Herz für die Kultur