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PolitikTürkei

Wie der Gaza-Krieg die Türkei und Ägypten näher rücken lässt

Burak Ünveren | Ismail Azzam
1. September 2024

Der türkische Präsident Erdogan nennt seinen ägyptischen Amtskollegen Al-Sisi nicht mehr "Mörder", sondern "Bruder". Der Israel-Hamas-Krieg spielt bei der Annäherung eine wichtige Rolle - aber nicht die einzige.

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Recep Tayyip Erdoğan und Abdel Fattah al-Sisi schütteln Hände in Katar
Anfang einer neuen Ära: Der Händedruck zwischen Al-Sisi (l.) und Erdogan in Katar ging viralBild: DHA

"Manche möchten mich mit Al-Sisi versöhnen. Das lehne ich ab. Ich sitze nicht am selben Tisch mit einem Anti-Demokraten", sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan noch 2019 über seinen ägyptischen Amtskollegen Abdel Fattah al-Sisi. Er nannte ihn "Mörder". Grund: Der Militärputsch gegen Mohammed Mursi,  der nach dem sogenannten Arabischen Frühlings demokratisch gewählt worden war. Al-Sisi war Militärchef.

Die Ideologie der islamistischen Muslimbruderschaft, die Mursi vertrat, prägte auch Erdogans Politik. Er machte die Rabia-Geste der Muslimbrüder nach den Protesten auf Kairos Tahrir-Platz 2013 bei jeder Gelegenheit. Kurz vor der Kommunalwahl 2019 brachte Erdogan den sozialdemokratischen Gegner seiner Partei mit der Al-Sisi-Regierung in Verbindung: "Werden wir am Sonntag für (unseren Kandidaten) Binali Yıldırım entscheiden oder Al-Sisi?"

Erdoğan zeigt Rabia-Geste aus dem Autofenster
Erdogan zeigte die Rabia-Geste der Muslimbrüder auch, als er 2018 Deutschland besuchteBild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

"Bruder" statt "Mörder"

Diese Zeiten haben nun ein Ende. Al-Sisi und Erdogan begegneten sich 2022 während der Fußball-WM in Katar und schüttelten sich die Hände. Auf das viral gewordene Bild folgte die "Erdbebendiplomatie": Nach dem verheerenden Beben in der Türkei 2023 rief Al-Sisi Erdogan an, Tage später besuchte der ägyptische Außenminister Samih Schukri das Katastrophengebiet. Im September 2023 trafen sich die beiden Präsidenten anlässlich des G20-Gipfels in Indien. Im Februar 2024 empfing Al-Sisi Erdogan in Kairo und die beiden lächelten vor der Kamera. Plötzlich nutzte Erdogan für seinen Amtskollegen eine andere Bezeichnung als "Mörder": "Mein geehrter Bruder".

Nun wird Al-Sisi am 4. September in Ankara empfangen – zum ersten Mal. Die zwei regionalen Mächte möchten ihre Beziehungen weiter vertiefen.

"Vereinende Rolle" Israels

Die ähnliche Haltung der beiden Länder gegenüber dem israelisch-palästinensischen Konflikt soll die Wiederannäherung geprägt haben. "Der Krieg im Nahen Osten und wie Israel ihn führt, spielt eine vereinende Rolle", sagt Selin Nasi, Politikwissenschaftlerin der London School of Economics (LSE). Die Expertin für Außenpolitik vergleicht die Beziehungen mit einer "Vernunftehe". "Auch wenn die beiden Länder nicht der gleichen Meinung sind, stimmen ihre Interessen überein. Beide wollen einen Waffenstillstand, den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen und die Gründung eines palästinensischen Staates", so Nasi.

Gamal Abdel Gawad, Politikwissenschaftler an der American University in Kairo, bestätigt dies. "Es gibt eine wesentliche Übereinstimmung zwischen den beiden Ländern bezüglich der Lösung des Konfliktes", so Gawad. Die Kooperation zwischen Kairo und Ankara werde es zudem erleichtern, dass beide Länder ihre Ziele in der Region erreichen, so Gawad.

Die Wiederannäherung sei in Teilen sogar in Israels Sinne, betont Mithat Rende, ehemaliger türkischer Botschafter in Katar. "Israel wollte eigentlich schon immer, dass sich die beiden Länder wieder annähern. Er wollte muslimisch geprägte Länder zusammenbringen und gegen den Iran eine muslimische Front schaffen", so Rende.

Die Türkei möchte außerdem in Gaza eine konstruktive Rolle spielen – was nur mit Ägypten möglich sei. "Es ist wichtig, dass die Beziehungen zu Ägypten gut sind. Um nach Gaza humanitäre Hilfe schicken zu können, braucht die Türkei die Hilfe Ägyptens, weil diese Hilfen zu 90 Prozent über den Grenzübergang in Rafah geliefert werden", so Nasi.

Wirtschaftliches Win-Win

Hinter der Verbesserung stecken zusätzlich zu geopolitischen Gründen auch wirtschaftliche. "Die Volkswirtschaften der beiden Länder ergänzen sich. Ägypten ist energiereich, während die Türken eine gute industrielle Infrastruktur haben. Türkische Investoren haben großes Interesse an Ägypten", so Rende.

"Ägypten wurde zunehmend ein wichtiger Akteur in Bezug auf Energie", bestätigt Nasi in Anspielung auf die Öl- und Gasvorkommen – davon wolle auch die Türkei profitieren. Ägypten spielt eine zentrale Rolle beim "East Mediterranean Gas Forum". Kairo ist der Hauptsitz der Organisation. Unter den beteiligten Mittelmeerstaaten finden sich zusätzlich zu Ägypten Länder wie Griechenland, Zypern, Frankreich, Israel, Italien, Jordanien und Palästinensische Gebiete – die Türkei nicht.

Kairo Stadtansicht
Die vergleichsweise günstigeren Produktionskosten in Ägypten sind ein attraktiver Faktor für türkische InvestorenBild: Gehad Hamdy/picture alliance/dpa

"Gute Nachrichten"

Die Entspannung zwischen den beiden Staaten betrachten Beobachter grundsätzlich als eine gute Entwicklung – nicht nur für die Region, sondern auch für die ganze Welt. "Das ist eine hervorragende Entwicklung für alle. Stabilität im Östlichen Mittelmeer ist für alle Beteiligten wichtig", so Rende. "Wir reden hier von den zwei stärksten Armeen sowie zwei der gebildetsten Gesellschaften in der islamischen Welt. Außerdem kontrollieren diese Länder einen wichtigen Anteil des globalen Handels, sagt der Diplomat und verweist auf den Bosporus, die Dardanellen und den Suez-Kanal. "Wir befinden uns in einer Zeit, wo die globalen Lieferketten auseinanderbrechen. Künftig könnte sich die Konkurrenz zwischen den USA und China zu einem Konflikt entwickeln. Auf jeden Fall werden die Türkei und Ägypten als Produktionsstandorte dienen."

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.