1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wie das Radio in Deutschland Kult wurde

Michael Marek
22. Dezember 2020

Vor 100 Jahren läutete das Radio in Deutschland ein neues Zeitalter der Kommunikation ein. Doch schon bald missbrauchten es die Nazis für Propagandazwecke.

https://p.dw.com/p/3mn5E
Zwei Frauen und ein Junge hören Radio
Das Radio war bei Groß und Klein beliebt Bild: ullstein bild - Paul Mai

Am 22. Dezember 1920 ging die erste Rundfunksendung in Deutschland über den Äther. "Hallo Hallo, hier ist Königs Wusterhausen auf Welle 2700". So wurde das Konzert angekündigt. Angestellte der Deutschen Reichspost gaben ein Weihnachtskonzert. Mit Klarinette, Harmonium, Streichinstrumenten und Klavier spielten sie im Sendegebäude der Stadt Königs Wusterhausen in Brandenburg.

Bescheidene Klangqualität

Die Qualität der Übertragung war schlecht. Knattern und Rauschen begleitete die Musikdarbietung. Hören konnten diese Übertragung nur offizielle Beauftragte der Deutschen Reichspost. Gemäß dem Versailler Vertrag war Privatleuten in Deutschland das Abhören von Funksignalen verboten.

Zwei Männer sitzen mit Kopfhörern neben einem Detektorempfänger
Die Welt kommt in die Wohnstube: Radioempfang mit einem Detektorempfänger in den 1920-er JahrenBild: picture alliance / akg

Gesellschaft im Aufbruch

Doch die Hörfunkwelle war damit in Gang gesetzt. Die Gesellschaft der Weimarer Republik befand sich im Aufbruch: Die Maler bildeten nicht mehr nur naturalistisch Welten ab - Kubismus, Dadaismus und abstrakte Malerei erschlossen neue Dimensionen der Vorstellung ohne einen unmittelbaren Bezug zur sichtbaren Wirklichkeit; Musiker und Komponisten eröffneten bislang unerhörte Klangräume - Jazz und Zwölf-Tonmusik traten zu den vertrauten Rhythmen und Tonarten; Dichter und Poeten schilderten nebeneinander herlaufende Handlungen und Geschichten; Konsumprodukte wurden in Serien- und Massenproduktion hergestellt; die Fliegerei verband Menschen über Tausende von Kilometern - und das Radio boomte.

Am 29. Oktober 1923 wurde die erste offizielle Rundfunk-Unterhaltungssendung in Deutschland ausgestrahlt. Das Verbot zum Abhören von Radiowellen war von den Alliierten mittlerweile aufgehoben worden. Dass wir heute davon überhaupt ein akustisches Dokument besitzen, verdanken wir einem Zufall: Wenige Monate nach ihrer Ausstrahlung wurde die Sendung nachgestellt und auf Wachsplatte konserviert.

Rundfunk mit Mission

Historisches Radio aus den 1930-er Jahren
Historisches Radio aus den 1930-er Jahren: ein Telefunken 331, Modellname "Nauen"Bild: picture alliance / dpa

Derweil stieg in Deutschland die Inflation ins Unermessliche; Armut und Elend griffen überall um sich - vor allem in den Großstädten. "Radio ist in Deutschland gerade in einer Zeit der tiefsten seelischen und wirtschaftlichen Not wie ein befreiendes Wunder begrüßt worden", sagte damals Hans Bredow, der bis heute als der "Vater" des deutschen Rundfunks gilt.

Wie viele Rundfunkpioniere der Weimarer Jahre versprach auch Bredow in seiner Funktion als Rundfunkkommissar des Reichspostministers pathetisch die Befreiung aus nationaler Enge. Mit der neuen Technik sollte das Zeitalter der Unwissenheit und Vorurteile zu Ende gehen.

Im Dezember 1923 zählte man ganze 467 Hörer. Ein Jahr später waren es im gesamten Reichsgebiet bereits eine Million. Und 1932 gab es mehr als vier Millionen zahlende Rundfunkteilnehmer - und mindestens ebenso viele Schwarzhörer. Auch die tägliche Sendezeit stieg stetig: 1923 waren es 60 Minuten, 1932 dagegen gab es bereits 15 Programmstunden pro Tag.

Unterhaltung für die Massen

Vier Männer stehen während eines Spiels hinter einem Fußballtor, an dem ein Mikrofon hängt.
Radiopioniere übertrugen am 1. November 1925 zum ersten Mal ein FußballspielBild: picture-alliance/dpa/WDR

Es waren die neuen Möglichkeiten der simultanen akustischen Berichterstattung, die die Radioten, wie die Hörer der ersten Stunde abfällig genannt wurden, in ihren Bann zog. Ein ungeheures Medienereignis für die damalige Zeit, das seine suggestive Wirkung durch Unmittelbarkeit und Live-Charakter erzielte. Und es entstand ein Genre, das bis dahin unbekannt war: das Hörspiel.

Zugleich gab es heftige Debatten über die negativen Auswirkungen des Radios auf die Hörer, auf Kultur und Politik. Viele Intellektuelle und Künstler standen dem neuen Medium äußerst distanziert gegenüber. Darunter der österreichische Komponist Arnold Schönberg: "Im Rundfunk wird der Mehrheit ihr Recht zugesprochen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit serviert man ihr jenen Ohrenschmaus, ohne welchen sie scheinbar heute nicht mehr leben kann. Ich mache diesem Unterhaltungsdelirium gegenüber das Recht einer Minderheit geltend: Man muss auch die notwendigen Dinge einmal verbreiten können, nicht nur die überflüssigen."

Der Staatsrundfunk entsteht

1925 entstand eine zentrale Reichsrundfunkgesellschaft, die der heutigen ARD durchaus vergleichbar war und in der sich die regionalen Sender zusammenschlossen. Ihre Aufgabe war es, die Finanzen zu regeln, gemeinsame Verwaltungsaufgaben zu erledigen und das Programm zu koordinieren. Der Hörfunk entwickelte sich zum Staatsrundfunk.

Das Programm war in seiner technischen und künstlerischen Qualität zunächst bescheiden. Die ersten Radiomacher mussten den Spagat zwischen kulturellem Anspruch und kommerziellem Erfolg bei möglichst niedrigen Produktionskosten versuchen. In der ersten Sendung vom Oktober 1923 gab es keinen einzigen journalistischen Wortbeitrag, keinen Kommentar und keine Reportage - dafür aber schon einen Werbeblock.

Unterhaltung mit Anspruch

Freude bereitete den Hörern vor allem die leichte Unterhaltung. Einer Umfrage zufolge setzten 83 Prozent der Befragten die Operette auf Platz eins. An zweiter Stelle folgten Sendungen über das aktuelle Zeitgeschehen.

Gleichwohl machte das neue Medium Musikformen wie den Jazz und den Schlager populär, es ließ Hunderttausende an der klassischen und zeitgenössischen Musik teilhaben - etwa an der ersten weltweiten Direktübertragung der Rundfunkgeschichte: der Wagner-Oper "Tristan und Isolde", dirigiert von Friedrich Furtwängler im Bayreuther Festspielhaus. Angeschlossen waren über 200 Sender aus aller Welt.

Riesige Sendeanlagen, wie hier um 1919 an der preußischen Grußfunkstelle in Nauenprägten fortan die Landschaft.
Riesige Sendeanlagen, wie hier um 1919 an der preußischen Grußfunkstelle in Nauenprägten fortan die Landschaft.Bild: ullstein bild - Zander & Labisch

1929 wartete das Radio mit einer weiteren Neuerung auf - der Reportage vor Ort. Die Rundfunkleute verließen das Hörfunkstudio, gingen hinaus auf einen Sportplatz, flogen mit einem Ballon über Berlin oder fuhren unter Tage mit den Bergarbeitern im Ruhrgebiet.

Radio als Propagandainstrument

Den Programmverantwortlichen wurde klar: Das Radio ist ein schnelles Medium, in jedem Fall schneller als die Berichterstattung in der Zeitung. Und noch etwas ließ aufmerken, nämlich dass mitunter die Radioübertragung das Ereignis war und weniger die Neuigkeit selbst. Das Live-Erlebnis vor Ort, etwa bei einem Fußballspiel, einer Hörspielaufführung oder in einem großen Theater war einmalig und nicht wiederholbar.

Die Nationalsozialisten beendeten dieses erste Kapitel des deutschen Rundfunks. Systematisch setzten sie ihn für ihre antisemitischen und kriegerischen Ziele ein. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 kam es zu personellen "Säuberungen", wie es im Sprachgebrauch des Verfolgungsapparates hieß. Politisch Andersdenkende und Juden wurden aus ihren Positionen gedrängt. Einen Neustart erlebte das Radio in Deutschland erst wieder nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs.