West- contra Ostpolitik
3. Dezember 2004Es sei die Wahl zwischen Europa und Russland, zwischen einem "Zurück in die sowjetische Vergangenheit" und einem "Vorwärts in die europäische Integration", so und ähnlich kommentierten westliche Medien die Präsidentenwahl in der Ukraine. Wiktor Juschtschenko sei der pro-westliche Reformer. Er werde vor allem eine Politik auf Europa zu machen. Sein Gegner Wiktor Janukowytsch hingegen stamme aus dem traditionell pro-russischen Osten des Landes. Ganz sicher werde er eine Politik machen, die auf eine Annäherung an Moskau ziele, Europa käme da erst an zweiter Stelle.
Wirtschaftskontakte zu Russland
Ganz so einfach allerdings sind die Dinge nicht. In seiner Amtszeit als Regierungschef, die 1999 begann, hat Juschtschenko sehr wohl auch die vielfältigen Wirtschaftskontakte zu Russland ausgebaut und gepflegt. Der Misstrauensantrag im Jahr 2001, durch den er zu Fall gebracht wurde, war in erster Linie seiner Antikorruptionspolitik im eigenen Land geschuldet, nicht aber einer Politik, die den russischen Interessen zuwider laufe, wie damals spekuliert wurde. Und Janukowytsch wurde - übrigens auch von russischer Seite - für die restriktive Wirtschaftspolitik in seiner Heimat, der ostukrainischen Donezk-Region kritisiert, denn dort konnten russische Unternehmen sich nicht in ukrainische Wirtschaftsbereiche einkaufen.
Janukowytsch Wunschkandidat des Kreml
Dennoch war im Wahlkampf zur Präsidentenwahl offensichtlich, dass Janukowytsch der Wunschkandidat des Kreml war. Gleich zweimal war der russische Präsident Wladimir Putin zu Gast in Kiew, lobte Janukowytschs Wirtschaftspolitik und ergriff öffentlichkeitswirksam Partei. Moskau erwartet sich von dem neuen Präsidenten den Schutz seiner Wirtschaftsinteresse im Land. Und dazu zählt an allererster Stelle das Energiegeschäft. 90 Prozent der Ausfuhren des russischen Gasprom-Unternehmens werden über Pipelines in der Ukraine nach Westeuropa transportiert. Das sind Einnahmen, die für die russische Wirtschaftsentwicklung überlebenswichtig sind. Allein die Steuereinnahmen von Gasprom machen knapp ein Drittel des gesamten russischen Bruttoinlandsproduktes aus. Russlands Wirtschaftswachstum hängt am seidenen Faden der steigenden Energieexporte. Ein allzu eigenständiger ukrainischer Präsident könnte diesen kappen.
Für Russland ist die Frage nach dem Kandidaten sehr wohl eine Schlüsselfrage. Mit Janukowytsch ist auch eher die Weiterentwicklung des vor einem Jahr beschlossenen "Gemeinsamen Wirtschaftsraumes (EEP)" denkbar. Den Vertrag hatten der scheidende Präsident Leonid Kutschma gemeinsam mit seinen Amtskollegen in Russland, Belarus und Kasachstan unterschrieben. Ziel dieses Wirtschaftsraum ist eine Zollunion und ein integrierter Wirtschaftsraum.
Juschtschenko eint Opposition
In allererster Linie aber ist die Frage des Kandidaten eine Frage der politischen Kultur - und da gibt es große Unterschiede zwischen beiden Kandidaten: während unter Ministerpräsident Janukowytsch und unter dem scheidenden Präsidenten Kutschma die Medien an die Kandare genommen wurden, hat Juschtschenko stets Medien- und Meinungsvielfalt gefordert. Während der politische Druck innerhalb der staatlichen Strukturen, der Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst, vor der Wahl ins Unermessliche wuchs, hat Juschtschenko die vielstimmige und heterogene Opposition geeint. Juschtschenko hat in seiner Zeit als Regierungschef eine sozial orientierte Marktwirtschaft an vielen Stellen angestoßen. Janukowytsch hingegen beließ es bei Geldgeschenken für Rentner und Studenten unmittelbar vor der Wahl.
Richtungsfrage für Europa
Die Ukraine ist ein klassisches Transitland. Sie grenzt an sieben Staaten. Deshalb wird jeder ukrainische Präsident und jede ukrainische Regierung nach Ost wie nach West aktiv Politik machen müssen. Die Wahl hat gezeigt, dass die Ukraine geteilt ist: Für eine Politik der starken Hand mit sowjetischen Mustern stimmte ein Teil - den offiziellen Zahlen zufolge sogar die Mehrheit der Wähler. Gleichzeitig jedoch wächst die Basis für einen fundamentalen Umbau von Politik und Wirtschaft in der Ukraine - eine politische Kultur, für die Juschtschenko steht. Deshalb ist die Kandidatenfrage auch für Europa eine Richtungsfrage. Europa wird sich künftig überlegen müssen, mit welcher Ukraine es Politik machen will, welche politische Kultur es unterstützt. Mit Janukowytsch im Präsidentenamt allerdings dürfte dieser Prozess mühsam werden.
Ute Schaeffer, DW-RADIO/Ukrainisch, 22.11.2004