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"Wer auf der Arbeit nicht verbrannt ist, der wird von Alkohol, Tabak oder Drogen eingeholt"

13. Oktober 2003

– Fast in ganz Russland übersteigt die Sterblichkeit die Geburtenrate

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Moskau, 9.10.2003, NOWYJE ISWESTIJA, russ., Jelisaweta Domnyschewa

Die Direktorin des Institutes für soziale und wirtschaftliche Probleme der Russischen Wissenschaftsakademie Natalja Ranyschewa hat kürzlich erklärt, dass Mitte des 21. Jahrhunderts in Russland 100 Millionen Personen leben werden. Zu dieser Schlussfolgerung kam sie anhand von Angaben des Staatlichen Komitees für Statistik, die von den Mitarbeitern des Institutes bearbeitet wurden. Das heißt, dass es uns um ein Drittel weniger geben wird! Der Grund liege in der "Abnutzung und Müdigkeit", die heute für uns typisch seien. Die Lebensdauer der Russen, die älter als 25 Jahre seien, liege unter der des Russischen Imperiums Ende des 19. Jahrhunderts: sie betrage 59 Jahre bei den Männern und 72 Jahre bei den Frauen.

Der Oberhygienearzt des Gesundheitsministeriums der Russischen Föderation, Gennadij Onischtschenko, hat seinerseits noch traurigere Zahlen veröffentlicht. Nach Angaben des Staatlichen Komitees für Statistik habe die wirtschaftlich aktive Bevölkerung im Januar 2002 etwas über 71 Millionen Personen betragen, etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Landes. Herrn Onischtschenko zufolge ist eine traurige Tendenz zu beobachten: jährlich sterben in Russland über 1 Million Bürger, davon 600 000 im arbeitsfähigen Alter. 80 Prozent davon sind Männer. Die Sterblichkeit unter den Vertretern des "starken Geschlechtes" ist vier Mal höher als unter den Frauen.

Die Arbeit in Privatunternehmen ist gefährlich

Nach Ansicht des Oberhygienearztes könnten die meisten Todesfälle verhindert werden, da sie alle auf die eine oder andere Weise etwas mit den schweren Arbeitsbedingungen zu tun haben. (...) Am schlechtesten sehe es in den Privatunternehmen aus: dort seien über 35 Prozent der Beschäftigten krank. Bei 37,5 Prozent liege der Anteil von Lärm und Vibrationen unter den Risikofaktoren. Industrieaerosole seien der Grund für 27,2 Prozent der Erkrankungen, physische Überanstrengung für 17 Prozent.

Zu den meisten Berufskrankheiten kommt es in der Kohlindustrie, der Buntmetallurgie und im Schwermaschinenbau. 20 Prozent der Berufskrankheiten entfallen auf Frauen. In den letzten Jahren wurde jeder fünfte arbeitende Russe mit 45 arbeitsunfähig erklärt.

Kaum ein Betriebsleiter investiert in die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, obwohl die Anlagen in vielen Betrieben und Fabriken zu 50 bis 80 Prozent abgenutzt sind. Kein Wunder, dass die Leute krank werden.

20 Liter gegen 8 Liter

Wer auf der Arbeit nicht verbrannt ist, der wird von Alkohol, Tabak oder Drogen eingeholt. Nach den Standards der Weltgesundheitsorganisation wird die Situation im Land gefährlich, wenn der Alkoholkonsum (reiner Alkohol) 8 Liter pro Person und Jahr beträgt. Im Jahr 1999 waren es in Russland 16,5 Liter, heute nähert sich diese Zahl aller Wahrscheinlichkeit nach den 20 Liter, wenn man unsere "große Bier-Revolution" berücksichtigt. Jährlich sterben 300 000 unserer Bürger an Krankheiten, die etwas mit dem Rauchen zu tun haben, 70 000 durch den Drogenkonsum.

Das Staatliche Komitee für Statistik hat beobachtet, dass die Zahl der Tuberkulose-, Aids-, Hepatitis und sogar Syphiliskranken von Jahr zu Jahr steigt. Immer weniger Leute können sich jedoch die nötigen Medikamente leisten, weil diese von Tag zu Tag teurer werden. (...)

Zweifelhafte Sensation

Vor dem Hintergrund dieser schwarzen Zahlen eine Sensation: die Geburtenrate in Moskau ist gestiegen! Täglich seien in diesem Sommer in den 30 Entbindungsanstalten der Stadt 300 Babys auf die Welt gekommen! Die Fachleute des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Handel der russischen Föderation freuten sich so über diesen Rekord, dass sie sich sofort an die Berechnungen machten und ihre Prognose aufstellten: die Geburtenrate wird in Russland in den kommenden zwei Jahren rapide zunehmen. Wenn im Jahr 2002 auf 500 Elternpaare 9,1 Kinder entfielen, so werden es 2005 bereits 10,3 sein. Wenn...

Die Kinder sind zur Welt gekommen nicht, weil "das Leben besser und das Gebären fröhlicher geworden ist". Es ist einfach so, dass erneut der seltsame "Demographie-Effekt" griff. In ein paar Jahren werden diese so tröstlichen Kennziffern zusammenbrechen. "Es ist einfach so, dass in den letzten Jahren die Generation heranwuchs, die Ende der 70er Anfang der 80er Jahre geboren wurde. Damals wurden etwas mehr Kinder geboren als in der 60er Jahren", so Sergej Sacharow, Leiter des Labors für Analyse und Prognostizierung der Bevölkerungsreproduktion des Institutes für volkswirtschaftliche Prognostizierung der Russischen Wissenschaftsakademie. "Zweitens hat die Generation der Frauen das kritische Alter erreicht, die sich das westliche Modell der Lebenseinrichtung eingeprägt haben – "Businesswomen" und "Emanze" - die sich in der postsowjetischen Zeit entschlossen haben, erst fest auf den Füßen zu stehen und dann zu gebären. Diese Kategorie der Frauen bringt heute die Kinder zur Welt, deren Geburt um zehn Jahre verschoben worden war.

Sergej Sacharow sagte, dass die sowjetische Tradition, Kinder im jungen Alter auf die Welt zu bringen, zerstört wurde. Auch die Verhütungsmittel hätten dabei ihre Rolle gespielt. (...)

Ein Kind zu haben, ist heute in Russland ein teures Vergnügen. In der Hauptstadt kostet die Entbindung 800 bis 1000 Dollar. Das Geld, das der Staat für die Kinder bereit stellt, ist im Vergleich zu den tatsächlichen Ausgaben lächerlich.

Walerij Elisarow, Direktor des Zentrums für das Studium demographischer Probleme, teilte letzte Woche mit, dass in Russland 1990 40 Millionen Kinder lebten und heute nur etwas über 30 Millionen. In sieben Jahren werde die Zahl auf 25 Millionen zurückgehen. (...)

Mit der Hilfe des Staates ist nicht zu rechnen

(...) Die Einwohner Russlands sind sich selbst überlassen: überleben, Kinder großziehen, etwas sparen, wenn nicht fürs Alter, dann wenigsten für schwerere Zeiten, eine Wohnung kaufen, die alten Eltern unterstützen. Der Staat hat sich von all dem zurückgezogen und verschärft lediglich die Gesetze. Denkt da noch jemand an Kinder? Nach Ansicht des Demographen Walerij Elisarow kann die rasche Alterung der Bevölkerung lediglich dank zwei Faktoren gestoppt werden: die wirtschaftlichen Bedingungen verbessern, das Kindergeld erhöhen.

Vor zwei Jahren erklärten die Machthaber, dass die Zeit des praktischen Handels gekommen sei. Sie erarbeiteten ein "Konzept der demographischen Entwicklung". Alle Schritte bis 2015 wurden einzeln beschrieben. Aber bereits heute muss festgestellt werden, dass das Konzept lediglich eine Deklaration über gute Absichten ist.

Es gibt keine strenge Kontrolle über die Qualität der Alkoholproduktion. Es gibt kein entwickeltes Netz von Vertrauenstelefonen, keine Stellen, bei denen sich diejenigen psychiatrische oder psychologische Hilfe holen können, die beschlossen haben, mit dem Leben abzurechnen. Es wurde nichts unternommen, damit der Arbeitgeber etwas tut, um die Zahl der Berufsunfälle und -erkrankungen zu reduzieren. Das Kindergeld ist ein wenig gestiegen, was jedoch die Inflation aufgefressen hat. Nur wenige kinderreiche Familien bekommen Subventionen, die sie nicht zurückzahlen müssen, oder günstige Kredite. Misserfolge gibt es auch, was die Migration betrifft. Wenn in den 90er Jahren so viele Leute einwanderten, wie in der Russischen Föderation verstarben, so wird die Migrationswelle jetzt dank den "klugen" Schritten der Machthaber, die den Zustrom der Bevölkerung aus den ehemaligen Republiken der Sowjetunion äußerst erschwert haben, immer kleiner. (...)

Im Jahr 2050 wird Russland UNO-Prognosen zufolge an erster Stelle stehen, was den Bevölkerungsrückgang betrifft. (...) (lr)